Von Klaus Pfenning
Schon die Anreise ist ein kleines Abenteuer. Gefühlt endlos rütteln und schütteln wir uns in einem Kleinbus über holprige Straßen, die eher den Namen Pisten verdienen. Und fast drei Stunden schippern wir mit einer klapprigen kleinen Fähre entlang des Komani-Stausees, der sich fjordähnlich über zig Kilometer in die bizarre Bergwelt hinein windet. Rechts und links ragen die Felswände fast senkrecht teils mehrere hundert Meter empor.
Die kleine Kreuzfahrt bildet den spektakulären Auftakt für faszinierende Wanderungen in einer der abgelegensten Gebirgsregionen des Mittelmeerraums. Wir sind in den albanischen Alpen im Norden des Landes, nicht weit entfernt von Montenegro und dem Kosovo. Der Begriff "Alpen" ist nicht etwa eine Erfindung von Marketingmenschen. Im Gegenteil. Im albanischen Hochland geht es in der Tat ausgesprochen alpin zu. Bis über 2700 Meter hoch ragen hier die Gipfel. Steinerne, verkarstete Kalkriesen, vor Jahrmillionen mit gewaltigen Kräften emporgehoben aus dem Meer. Zum Vergleich: In den deutschen Alpen ragen gerade eine Handvoll Berge höher hinauf. Fast ein halbes Jahrhundert lang, bis Anfang der neunziger Jahre, war Albanien unter seinem Langzeitherrscher Enver Hoxha eine knallharte kommunistische Diktatur, abgeschottet und isoliert wie heutzutage allenfalls Nord-Korea. Mittlerweile boomt der Tourismus geradezu, egal ob in der Hauptstadt Tirana, an den Stränden im Süden des Landes oder hier oben in den Bergen.
Einer der besten Ausgangspunkte für Wanderungen durch die Berge ist Valbona. Die weit verstreute Siedlung liegt in einem breiten, von Gletschern geformten Trogtal und besteht überwiegend aus einfachen Gästehäusern voll herzlich-postkommunistischem Charme. Dass die Toilette gleichzeitig auch die Dusche ist, muss man nicht wirklich verstehen. "Das ist in Albanien ganz normal", versichert unser Bergführer Fa. Der 24-Jährige, der eigentlich Fabio heißt, ist in Italien aufgewachsen und hat in Deutschland Elektrotechnik studiert. "Mit Abschluss", wie er hinzufügt. Seine Eltern waren Ende der Achtzigerjahre über das Meer und über die Berge Griechenlands vor dem Schreckensregime des paranoiden Hoxha geflüchtet.
Die Berge in den nordalbanischen AlpenUnsere erste, fast siebenstündige Tour führt uns von Valbona aus zum gut 2000 Meter hoch gelegenen Rozi-Pass an der Grenze zu Montenegro. Der Weg dorthin führt durch lichte Buchenwälder und über ausgedehnte Weiden, auf denen Kühe und Schafe grasen. Unterwegs machen wir Rast an einer einfachen Almhütte, trinken ein Bier, das der Hirte von einem Maulesel auf den Berg hat schleppen lassen. Die Enkel des faltenzerfurchten Mannes, die hier ihre Ferien verbringen, schauen uns Wanderer an, als kämen wir von einem anderen Stern.
Der Pass selbst bietet grandiose Blicke hinüber nach Montenegro. Extrem steil, schroff und abweisend ragen hier die Felsen in den blauen Himmel – eine pittoreske Mischung aus den nördlichen Kalkalpen und den Dolomiten. Allerdings ohne die gewohnte Infrastruktur dort. Hütten zum Übernachten sucht man in Albanien vergebens. Die Wege sind auch nicht eigens zum Wandern angelegt, sondern dienen historisch der Verbindung zwischen Dörfern und Tälern. Die nächste Siedlung ist vom Pass aus drei Gehstunden entfernt und liegt in Montenegro. In Zeiten Hoxhas war dort für Albaner die Welt zu Ende. "Selbst hier oben war früher Militär", erklärt uns Fa. "Und wer es trotzdem über die Grenze geschafft hat, der wurde einfach wieder zurückgeschickt." Mit offenen Folgen. Montenegro war früher Teil von Jugoslawien – und auch mit diesem ehemaligen Verbündeten hatte es sich Hoxha irgendwann gründlich verscherzt. Im Auf- wie im Abstieg treffen wir regelmäßig auf Gruppen, hören fast immer Deutsch. "Der Albaner selbst wandert nicht", meint Fa nüchtern.
An der albanischen Sprache braucht man sich als Tourist erst gar nicht zu versuchen. Für unsere Ohren und Zungen ist sie einfach nur exotisch und unverständlich. Berg heißt hier "Mal", Tal "Lugina", Alm "Bjeshka". Am einfachsten ist es noch mit dem Schnaps, der heißt Raki. Der albanische Hochprozentige wird aus so ziemlich allem gebrannt, was die Natur hergibt. Aus Trauben etwa oder Zwetschgen. Oder aus der Kornelkirsche, einer kleinen, roten, ovalen Frucht, die man leicht für eine Hagebutte halten könnte. Kulinarisch ist die Region eine Mischung aus Balkan, Griechenland und vor allem der Türkei. Mehr als 400 Jahre, noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, war Albanien Teil des Osmanischen Reichs. Da darf es kaum wundern, dass Cevapcici bis heute Kebab heißt.
Als Höhepunkt in den nordalbanischen Alpen gilt die Überschreitung des 1800 Meter hohen Valbona-Passes. Vom Dorf aus zieht sich der Weg erst durch ein ausgetrocknetes Flussbett, dann steil bergan hinein in einen wilden Talschluss. Unser Gepäck haben wir auf Maultiere verladen, jedes von ihnen trägt drei Koffer oder Rucksäcke.
Aus 25 Metern Höhe stürzt dieser Wasserfall in einen türkisfarbenen Tümpel.Dominiert wird die Szenerie vom fast 2700 Meter hohen Gipfel des Jezerca, dem höchsten vollständig in Albanien gelegenen Berg. Unweigerlich geht einem hier Karl May durch den Sinn, der einen Teil seiner Abenteuer in den Schluchten des Balkan spielen ließ. So wie "Durch das Land der Skipetaren", das Land der Albaner also. Beide Seiten des Passes gehören zu Nationalparks. In Albanien gibt es davon 15, ihre Gesamtfläche entspricht etwa der des Odenwalds.
Die Überschreitung des Valbona-Passes steht in fast jedem Reiseführer. Entsprechend betriebig geht es zu, und zwar in beide Richtungen. Die Tour ist zugleich Teil des Fernwanderwegs "Peaks of the Balkan", der in gut zehn Tagen die höchsten Gipfel Albaniens, Montenegros und des Kosovos streift. Nach dem Pass ändert sich das Bild rasch. Dichte Buchenwälder begleiten uns fortan hinunter in den kleinen Ort Theth, wo es neben ein paar einfachen Gästehäusern zu unserer Freude auch bayerisches Weißbier gibt. Bären und Wölfe, die in dieser Gegend vorkommen sollen, treffen wir dagegen unterwegs nicht. Im Winter ist Theth meist vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Der einzige Autozugang über eine steile, enge, kurvige, von Schlaglöchern und Regenrinnen übersäte Piste ist dann nicht mehr passierbar. Nur noch wenige der kaum 100 Einwohner harren hier dann noch aus.
Am nächsten Morgen verlassen wir Theth entlang des träge gluckernden Shala-Bachs. Am Ortsende erklärt uns ein Einheimischer in einem "Blutracheturm" das uralte Rechtssystem, die Kanun. In diesem abgelegenen Teil des Balkan, der sich von den osmanischen Eroberern und dem albanischen Diktator weitgehend abgekoppelt hatte, galt dieser Gesetzeskodex bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Vorbei an einem Wasserfall, der aus 25 Metern Höhe in einen türkisgrünen Tümpel rauscht, erreichen wir nach zwei Stunden den halb verfallenen Weiler Nderlysaj. In einer altertümlichen Mini-Wassermühle mahlen die wenigen Bewohner bis heute ihr Getreide.
Hier, in einem wunderschönen grünen Nichts, nehmen wir Quartier in einem rustikalen Gästehaus mit Duschklo und einem ausgedehnten Abendessen. Albanische Gastgeber sind durchweg angenehm zurückhaltend und herzlich zugleich. Die meisten von ihnen sprechen zumindest ein bisschen Englisch, der große Rest funktioniert in "Reise-Esperanto": mit Händen und Füßen.
Am letzten Tag unserer Tour führt der Weg steil, schweißtreibend und kräftezehrend bergauf durch den Wald zum 1700 Meter hohen Thore-Pass. Oben angelangt, treffen wir seit Tagen zum ersten Mal wieder auf Asphalt. Vom Pass aus führt er als schmale, steile, im Winter unbefahrbare Schlagloch-Wasserrinnen-Schotterpiste hinunter nach Theth. Derzeit planen die albanischen Behörden den Ausbau zu einer breiten und bequemen Straße. Dann könnte es bald vorbei sein mit der Ruhe und Abgeschiedenheit von Theth und den zauberhaften albanischen Alpen.