Von Gerd Krauskopf
Mystische Trommelschläge dröhnen am frühen Abend durch die Wellblech- und Strohhütten, Haitianer tanzen im Sinnesrausch durch glühende Feuer und führen brennende Strohfackeln an ihren verschwitzten Körpern entlang. Sie scheinen dabei keinen Schmerz zu empfinden. Während Schluck um Schluck hochprozentiger Alkohol die besessenen und verzerrten Gesichter in Trance versetzt, bereitet sich der "Houngan", der Priester, für die Opferung eines Hahnes vor. Noch versucht das Tier zu entkommen, wird aber von zwei starken Händen an den Flügeln geschnappt, die auseinandergerissen werden, wobei der Kopf blitzschnell tief im Mund des Priesters verschwindet. Mit drehendem Kopf schleudert er das Tier am Hals herum. Ein Todesbiss und der Priester spuckt den Hahnenkopf auf den im Kerzenschein flackernden Altar.
Welch ein Szenario. Betroffen stehle ich mich von diesem Voodoo-Ritual davon. Noch lange sitze ich gedankenverloren in dem klapprigen Fahrzeug, das mich über holprige Wege hinunter nach Cap-Haïtien bringt. Hispaniola, zweitgrößte Insel der Antillen, ist die einzige karibische Insel, die zwei Staaten beherbergt. Die Dominikanische Republik und Haiti. Haiti – erste schwarze Republik der Welt – zählt zu den ärmsten Ländern dieser Erde mit vielen Revolutionen, Staatsstreichen, Bandenterror und Folter. Und noch heute hat sich das Land nicht von den Zerstörungen des schwersten Erdbebens der Welt von 2010 erholt.
Haiti ist hermetisch abgeschottet. Es gibt nur ein kleines "Schlupfloch" für Touristen. Wenige wagen einen Besuch aus der Dominikanischen Republik. Dabei nehmen sie – wie auch ich – die fehlende touristische Infrastruktur in Kauf und lassen die Reise- und Sicherheitshinweise zur besonderen Vorsicht des Auswärtigen Amts links liegen. Oder sie kommen vom Wasser aus mit riesigen Luxusschiffen ins hoch bewachte Resort Labadee in der Nähe von Cap-Haïtien, wo sie den traumhaften Strand genießen. Von Land und Menschen bekommen sie jedoch nichts mit. Auch nicht von der mächtigen Zitadelle Laferrière, Unesco-Weltkulturerbe, hoch oben in den Bergen über der Stadt Cap-Haïtien. Sie hatte der schwarze König Henry Christophe 1806 errichten lassen, um die junge Nation, die sich von den Franzosen befreit hatte, zu schützen.
Aus der ungeschminkten Karibik wieder zurück in Puerto Plata genieße ich das kristallklare Wasser, relaxe bis zum Sonnenuntergang am schneeweißen Strand und lausche den sanft plätschernd ausrollenden Wellen des Atlantischen Ozeans. Dabei gehen mir das Land und seine Menschen, nur einen Steinwurf von hier entfernt, nicht aus dem Sinn. Dort habe ich in einem kleinen Café auf einem von Hand bunt bemalten Plastikstuhl mit Blick auf den Hafen gesessen, der in eine riesige Müllhalde eingebettet war. Habe mich davon erholt, dass ich nur knapp einem faustdicken Stein ausgewichen bin, den man nach mir geworfen hatte. Obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt von freundlichen Menschen umgeben und unbehelligt durch die Straßen mit bunt getünchten Bauten aus der Kolonialzeit gegangen war.
Die maroden Häuser sind die letzten Zeugen der einstigen französischen Kolonie, die mit Sklavenarbeit im Zuckerrohr- und Kaffeeanbau reich geworden ist. Bis heute leben die Menschen in unglaublich armen Verhältnissen. Ein winzig kleiner Lichtblick ist die Organisation "Campus für Christus", die Spenden für den Wiederaufbau eines Waisen-Kinderheims in Haiti sammelt.
Nach diesem Erlebnis möchte ich die Urlaubszeit nicht nur im Liegestuhl verbringen, im Luxus schwelgen und vielleicht einmal die Hüften im Merengue-Rhythmus schwingen. Und so geht es hinaus aus dem Trubel von Puerto Plata ins üppig bewaldete, hügelig grüne Hinterland – ohne giftiges Getier übrigens. Im weitläufigen Cibaotal gibt es exotische Obst- und Gemüseplantagen. Hoch oben auf der Gebirgskette der Zentralkordilleren werden Rafting-Freunde in der Nähe von Jarabacoa von weit her angelockt. Alles überthront der höchste Gipfel der Karibik, der Pico Duarte mit 3175 Metern, der sich im Naturpark Parque Nacional José Armando Bermúdez befindet. Der wohl schönste Fluss aller karibischen Inseln ist der Rio Chavon in der Nähe von La Romana. Hier genieße ich von einem Hochplateau des Fantasiedorfs Casa de Campo – eine der renommiertesten Hotelanlagen der Dominikanischen Republik – den ockerfarbenen Fluss, der sich durch einen geheimnisvollen Palmendschungel windet und Kulisse vieler großer Filme wie "Apocalypse Now" war.
Angezogen von diesem Postkartenblick verlassen die Gedanken diesen Schickeria-Ort und kehren zu den mystischen Trommeln der Ärmsten der Armen, den haitianischen Zuckerrohrarbeitern mit ihren im Sinnesrausch verzerrten Gesichtern zurück. Lichtjahre von diesem Nobelort mit den Luxusvillen entfernt, klingen die urschreiähnlichen Laute plötzlich wieder in meinen Ohren und lassen den mit Blut, Körperschweiß und Hahnenfedern verklebten Mund noch einmal den abgebissenen Kopf auf den Altar spucken.