Auf den Spuren Hans Christian Andersens in Dänemark
Passend zum 150. Todestag von Hans Christian Andersen am 4. August erzählt ein neues Museum in Odense Geschichten von Dänemarks bekanntestem Autor.

Von Martin Wein
Schließlich brach auch das große Ei entzwei. "Piep, piep", sagte der Neuankömmling und schlüpfte heraus. Er war beängstigend groß und hässlich – mit diesen dürren Worten nimmt ein Schicksal seinen Anfang, das schon Millionen Kinder in aller Welt berührte. Hans Christian Andersen hat es 1843 unter dem Originaltitel "Den grimme Ælling" veröffentlicht. Mehr als 180 Jahre später hat die rührende Geschichte vom Außenseiter aus sozial benachteiligten Verhältnissen, der nach vielen Wirrungen schließlich als stolzer Schwan reüssiert, ihren Ehrenplatz im Museum für Dänemarks bekanntesten Schriftsteller bekommen.
50 Millionen Euro haben Andersens Geburtsstadt Odense und namhafte Stifter in einen verschlungenen, halb unterirdischen Museumsbau von Stararchitekt Kengo Kuma investiert. Seit der Eröffnung im Covid-Jahr 2021 ist das Museum die Top-Attraktion in Dänemarks drittgrößter Stadt. Nachdem man sich vom Foyer aus durch einen gewundenen Gang entlang von Andersens Lebensweg immer weiter hinabgeschlängelt hat, ist schließlich dem hässlichen Entlein ein eigener zentraler Raum gewidmet. Denn das Entlein, das war Andersen selbst.
Hintergrund
Infos:
Anreise: Von Sonderborg und Kopenhagen bestehen direkte Zugverbindungen nach Odense. Die Stadt erkundet man am besten zu Fuß.
Einkehren: Café Deilig
Infos:
Anreise: Von Sonderborg und Kopenhagen bestehen direkte Zugverbindungen nach Odense. Die Stadt erkundet man am besten zu Fuß.
Einkehren: Café Deilig (www.deilig.dk ) zeitgemäße Köstlichkeiten in modernem Ambiente gleich neben dem Museum; Café Fleuri (www.cafefleuri.dk) mit üppig bepflanztem Innenhof.
Das Museum: HC Andersens Hus, modernes Museum neben dem Geburtshaus, täglich 10 bis 17, Juli bis August bis 18 Uhr, Tickets vorbuchen unter: www.hcandersenshus.dk/de
Kombiticket mit dem Kindheitshaus. Tipp: Den besonders humorvollen englischen Audioguide wählen.
Weitere Infos: www.visitfyn.de
Am 2. April 1805 war der Schriftsteller in Odense auf die Welt gekommen. "Die Stadt auf der Insel Fünen hatte damals kaum 4000 Einwohner, aber als einzige im Reich neben Kopenhagen ein eigenes Theater", erklärt Niels Bjørn Friies aus dem Kuratorenteam des Museums. Andersens winziges Geburtshaus in der Hans Jensens Stræde 45 mit ihrem Kopfsteinpflaster und den bunten Häuschen ist heute in den Museumskomplex integriert. 1805 lag es am Rand der kleinen Stadt, geografisch wie sozial.
"Hier wohnten fünf Familien mit 20 Menschen gleich neben einem Abwasserkanal", sagt Friies. Vater Hans war Schuhmacher ohne Meisterbrief, belesen, kulturaffin, den Ideen der Französischen Revolution zugeneigt, aber bitterarm. Seinem Sohn baute er ein Puppentheater. Man könne alles werden, was man wolle, sagte der Vater. Aus Geldnot wurde er Soldat und starb an Tuberkulose, liest man auf einer Tafel. Die Mutter Anne Marie war Wäscherin, abergläubisch, konservativ und dem Alkohol zugeneigt, um die vom Waschen im Fluss steifen und kalten Glieder zu betäuben. Die Brücke über den Odense Å solle er möglichst schnell überqueren. Sonst komme der Butzemann ihn holen, warnte die Mutter. In Odense war der kleine Andersen ein Nobody.
Hans Christian Andersen verbindet man heute vor allem mit Kopenhagen, wo er lange lebte. Wie er der Star wurde, der er war, kann man indessen am besten in Odense nachvollziehen, wo der Junge seine ersten 14 Jahre verbrachte. Schon nach kurzer Zeit war die Familie in die Munkemøllestræde 3 hinter dem gotischen Backsteindom St. Knud und dem Rathaus umgezogen. Seit 1908 ist das einstöckige Fachwerkhaus als Museum eingerichtet. Die winzige Werkstatt, der Schlafraum, die Küche zum Hof. Die Nachbarin besaß ein paar Bücher und lieh sie gerne aus. "Dahinter war ein Gefängnis", erzählt Andersen-Kenner Friies. Andersen sollte zeitlebens an Ängsten leiden. Seine Kindheit hat er später märchenhaft verklärt. "Es gibt bei ihm manchmal eine wahre Geschichte", sagt Friies, "und manchmal einfach eine gute."
Eines muss Andersen früh klar geworden sein: Er musste hier raus. Selbst die Mutter stimmte zu, nachdem eine Wahrsagerin dem Jungen großen Erfolg vorausgesagt hatte. Als es mit der Karriere als Balletttänzer nichts wurde, weil er beim Vortanzen eine teure Vase zertrümmerte, und als es auch am Theater und als Sänger nicht klappte, verlegte sich der junge Mann aufs Schreiben. Vor allem seine 156 Kunstmärchen wurden Kult: Des Kaisers neue Kleider, Die kleine Meerjungfrau, Däumelinchen oder Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. "Es ging ihm immer um einen Perspektivwechsel. Oft zeigt er die Welt aus den Augen eines Kindes", erklärt Friies.
Im Museum machen sie es auch so. Man wandelt durch acht Märchen und darf sich sein eigenes Bild davon machen. Von unten schaut man wie die Meerjungfrau am Grund eines Teiches durch eine Glasscheibe zu den Menschen im Garten. Eine Erbse auf einem roten Samtkissen erzählt ihre eigene Geschichte von der verwöhnten Prinzessin. Auch andere Exponate entwickeln im Audioguide ihr Eigenleben, darunter zahlreiche Souvenirs, die Andersen von seinen 32 großen Reisen bis nach Marokko und Istanbul mitbrachte. Eine Sonnenbrille aus Spanien fängt an zu plaudern, ebenso eine Zigarrenkiste und vor allem ein neun Meter langes Tau, mit dem sich der Dichter im Notfall aus einem brennenden Quartier retten wollte. Er war ein Weltbürger, der bei Charles Dickens wohnte oder bei Robert und Clara Schumann. Ein interessanter Typ, der sich jeden Abend woanders einladen ließ und anschließend über das Essen motzte.
Seinen Schwanenmoment erlebte er aber zu Hause in Odense. Man schrieb den 6. Dezember 1867. Scheinbar die ganze Stadt hatte sich mit Fackeln vor dem Rathaus versammelt. Im Alter von 62 wurde Hans Christian Andersen zum Ehrenbürger ernannt. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt. Trunken vor Glück stand der Dichter vor der Menge – und hatte fürchterliche Zahnschmerzen. Ein Happy End ohne Wermutstropfen war einem chronisch-ironischen Menschen wie ihm nicht vergönnt. Aber ein Museum von Weltklasse ist ihm gewidmet.