Ein Dorf voller Musik
Einmal im Jahr wird der französische Ort Marciac zur Jazzhochburg

Von Mathias Roth
Wenn 270.000 Besucher in ein Dorf mit 1200 Bewohnern einfallen, erinnert das an Woodstock: Man hat die Bilder vor Augen von 1969, die um die Welt gingen. Seit 1978, vielleicht beflügelt von dem einmaligen amerikanischen Festivalklassiker, lädt man in Marciac, Departement Gers, im Süden Frankreichs jährlich zum Jazz ein — in diesem Jahr zum 45. Mal. Und es ist ähnlich, wenn auch nicht vergleichbar, denn man hat inzwischen Routine in der Organisation, und die Musikfans kommen verteilt auf drei Wochen.
Mit dem Auto fährt man eine Stunde von Toulouse nach Westen und findet Marciac nicht weit vom historisch bedeutsamen Bischofssitz. Die meisten kommen mit Zelt oder Caravan, viele campen rings um das Dorf und entlang des Lac du Marciac, aber es stehen auch Wohnmobile in Vorgärten oder Hinterhöfen am Dorfrand, gelegentlich wie Wagenburgen zusammengestellt, ein Grill in der Mitte. Der ganze Ort lebt mit dem Festival, und von überall her klingt Musik.
Wer das nicht mag, dem bleibt nur Flucht: Wenige Einwohner fahren in der Zeit in Urlaub und überlassen dem Festival ihre Häuser oder Wohnungen für diese drei Wochen. Denn Unterkünfte sind rar in Marciac und Umgebung, auch für Künstler oder Mitarbeiter von außerhalb. Die meisten Ansässigen aber arbeiten mit: Rund 1000 Freiwillige jeden Alters sind beschäftigt, die Hälfte kommt aus dem Dorf selbst und der Umgebung. Sie arbeiten gegen Verpflegung und freien Zugang zu den Konzerten im Service der Restaurants, als Kartenabreißer und Platzanweiser, als Klomann/-frau oder als Chauffeurinnen und Chauffeure.
Das Dorf selbst ist wie eine Garnison um einen großen, rechteckigen Platz gebaut. Arkaden unter den zweistöckigen Häusern umlaufen die "Place de l‘Hôtel de ville", die während des Festivals in einem großen, offenen Zelt tagsüber kostenlose Live-Konzerte bietet: Die knapp 500 Plätze sind meist besetzt, die Ensembles (bis zur Bigband-Stärke) wechseln sich ab und treten meist mehrfach auf. Drumherum wuselt in den Läden, Kneipen und Restaurants das Leben. Aber auch in den Seitenstraßen ist viel los: Hier locken die Restaurants mit lauschigen Hinterhöfen, oft ist da auch Live-Jazz zu hören, und im Garten der Eglise Notre-Dame d‘Assomption mit ihrer bunt bemalten, spätgotischen Paradiespforte, spielt ein Solist auf dem Flügel. Die Leute bleiben stehen und lauschen, kaufen eine CD des Künstlers oder spenden ein paar Münzen. Es klingt und singt in jeder Gasse, und viele Fenster stehen offen, um drinnen auch etwas zu hören. Marciac – ein Dorf in Musik.
Das mag sich recht beschaulich anhören, aber die Haupt-Acts des Festivals finden allabendlich etwas außerhalb in einem Großzelt statt, das 6000 Sitzplätze bereitstellt und auf dem Rugby-Platz errichtet ist: Hier treten täglich jeweils zwei Gruppen hintereinander auf, beginnend um 21 Uhr. Die Konzerte enden nicht vor 1 Uhr in der Nacht - und man hört sie weit über die Grenzen des Dorfs hinaus. Um das Kommen und Gehen der Menschenmassen zu koordinieren gibt es nur Karten für beide Konzerte an einem Abend, und so treffen hier auch unbekannte Gruppen auf Weltstars. Im Lauf der Jahre traten hier Dizzy Gillespie und Wayne Shorter, Keith Jarrett und Oscar Peterson, Sonny Rollins und Ray Charles, Diana Krall oder Al Di Meola, Max Roach oder Stéphane Grappelli, das Modern Jazz und das Golden Gate Quartet sowie – mehrfach – Wynton Marsalis auf. Um nur die Bekannteren zu nennen.
Hintergrund
Infos:
Anreise: Mit dem Zug: über Straßburg nach Toulouse bis Auch (Gers). Von dort mit Bus oder Taxi nach Marciac.
Mit dem Auto: über Karlsruhe, Mulhouse, Besançon, Clermont-Ferrand, Montauban und Auch nach Marciac. Zirka 1170
Infos:
Anreise: Mit dem Zug: über Straßburg nach Toulouse bis Auch (Gers). Von dort mit Bus oder Taxi nach Marciac.
Mit dem Auto: über Karlsruhe, Mulhouse, Besançon, Clermont-Ferrand, Montauban und Auch nach Marciac. Zirka 1170 Kilometer, in Frankreich auf Maut-Straße. Ohne Mautstraße ca. 50km längere Fahrt. Mit dem Flieger: Frankfurt nach Toulouse. Dann mit Leihwagen oder Taxi nach Marciac (ca. eine Stunde).
Unterkunft: In der Region Gers gibt es im Umkreis von 30 Kilometer um Marciac zahlreiche kleine Hotels, nicht zuletzt in der Kreisstadt Auch. Chambres d’hotes sind ab 67 Euro/Nacht zu finden. Landgasthäuser mit Übernachtungen (ab 97 Euro/Nacht) sind oft aufwendig und liebevoll restauriert und bieten bei allem Komfort erholsamsten Schlaf in der Abgeschiedenheit einer bezaubernden, nächtens auch ungewöhnlich stillen und dunklen Landschaft. Man sollte rechtzeitig vor dem Festival buchen.
www.coeursudouest-tourisme.com
www.logishotels.com/hotel/de/midi-pyrenaen/gers
Festivalinfo: www.jazzinmarciac.com
Marsalis ist heute so etwas wie der Hausgott des Festivals in Marciac: Ein Bronzedenkmal ehrt ihn an der neuen Konzerthalle, die ganzjährig 500 Plätze bietet. Der Trompeter kommt oft hierher und ist auch in diesem Jahr Gast. "Es war Liebe auf den ersten Blick" zwischen dem noch jungen Jazzer und dem Festival-Mitbegründer Jean-Louis Guilhauman, erzählt uns Jean Koenig, Pianistin, Pädagogin, Buchautorin und Festival-Vertraute seit vielen Jahren. Sie hätten sich sofort verstanden und auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert, obwohl Guilhauman nie selbst Musiker war, sondern musikbegeisterter Lehrer und später mehrfach Bürgermeister des Orts. Mit der Gründung einer Musikschule rettete Guilhauman auch den Verbleib des Gymnasiums in Marciac: Der Einsatz für die (nicht nur musikalische) Bildung von Kindern und Jugendlichen sei eine Haupttriebfeder für ihn noch heute, bestätigt Guilhauman bei einem gemeinsamen Essen mit Pressevertretern aus Deutschland und Spanien. Man sieht ihn dann auch in den Konzerten in der ersten Reihe sitzen: Die Leidenschaft des 74-Jährigen für alle Spielarten des Jazz ist ungebrochen.
An zwei Abenden hörten wir selbst das französisch-afrikanische Sextett "Sixon" und danach "Snarky Puppy" aus Texas, ein äußerst kraftvolles Tentett, das man hier offenbar gut kennt: Die Halle kochte bis weit nach Mitternacht. Am Nachmittag konnten wir bereits eine Masterclass von Sixon im Collège Aretha Franklin verfolgen, die die Nachhaltigkeit des Bildungskonzepts äußerst eindrucksvoll demonstrierte und viele wirklich junge Leute anzog.
Am nächsten Abend traten Lizz Wright mit Band, eine Vollblut-Blueserin aus der Tradition afroamerikanischer Gospel- und Folkmusic, sowie Superstar Norah Jones auf, die zum wiederholten Male und erneut vor ausverkauftem Haus in Marciac auftrat. Sie reist, so konnte man hören, immer mit eigener Waschmaschine und eigenem Wäschetrockner an: Extraordinäre Künstler haben nun auch mal besondere Wünsche oder Angewohnheiten. Das kennt man in Marciac seit 45 Jahren. Weitere Gäste in diesem Jahr waren Abdullah Ibrahim, Pat Matheny, Kenny Barron, der 92-jährige Kenny Burell, Brad Mehldau, Suzanne Vega oder Gregory Porter – um wieder nur die bekanntesten Namen zu nennen.
Dass das kleine Dorf ganz im Zeichen der Musik steht, zeigt sich auch in anderer Hinsicht. Denn es hat sich hier ein Unternehmen niedergelassen, das alte Platten herstellt: Vinyle Garcia & Co. ist eine kleine Firma mit großer Idee. Sie presst LPs in vergleichsweise winziger Auflage, aber mit höchstem technischen Anspruch und derzeit absolut vergessener Musik. In Zusammenarbeit mit "The Lost Recordings" von Frédéric D‘Oria-Nicolas werden hier die historischen Konzertmitschnitte gepresst, die dieser in deutschen Rundfunkarchiven entdeckt hat und die nach ihrer Erstsendung nur selten ein zweites Mal über Funk gingen, geschweige denn als Platte veröffentlicht wurden. Da gibt es Mitschnitte von Maria Callas bis Dexter Gordon aus den 1950ern bis in die 1980er Jahre, die heute Seltenheitswert haben und unter Kennern und Liebhabern als Raritäten großes Interesse finden.
Der junge "Garcia & Co."-Firmengründer Simon erläutert seine Leidenschaft für das analoge Medium gern selbst, und kleine Gruppen sind immer willkommen: "Die deutschen Aufnahmen sind von bester Qualität und liegen behütet seit Jahrzehnten unberührt in den Archiven der Rundfunkanstalten", sagt er und schmunzelt: Als habe die Welt nur darauf gewartet, dass jemand danach fragt. Nur Originaltonbänder werden zur Herstellung der Matrize verwendet und durch ein spezielles Verfahren kopiert: "The Lost Recordings" ist ein einzigartiges Projekt zur Hebung vergessener musikalischer Schätze — und die Presse für die raren Platten steht in Marciac.