Département Aisne/Frankreich

In Ruhe durch die Champagne radeln

Die Aisne liegt im Herzen der Champagne.  Hier kann man Prickelndes und Historisches erleben.

02.12.2023 UPDATE: 02.12.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 15 Sekunden
Eine von vielen Wehrkirchen in der Region: La Bouteille bei Guise. Foto: abs

Von Michael Abschlag

Am späten Vormittag hat sich der Nebel verzogen. Stattdessen liegt das Land klar und hell da, leuchtend in der Sonne; nur der Tau auf den Wiesen zeugt von der Feuchtigkeit. Sattgrün erstreckt sich das Land bis zum Horizont, weitgehend flach, von sanft geschwungenen Hügeln durchzogen. Dazwischen: Weiden, Kühe, gelegentlich ein Kirchturm am Horizont. Und der Fernradweg Eurovelo 3, der sich durch das dünn besiedelte Land schlängelt.

Das Departement Aisne liegt im Nordosten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Paris und der Grenze zu Belgien, abseits der großen Metropolen. Eine halbe Million Menschen leben hier, viele arbeiten in der Landwirtschaft. Auf den Feldern wachsen Rüben, Kartoffeln und Getreide, an den Hängen erstrecken sich Weinberge: Die Aisne liegt im Herzen der Champagne, die Trauben wandern direkt in die Produktion des legendären französischen Schaumweins.

Hintergrund

Infos: 

Anreise: Mit dem Zug über Paris nach Laon sind es ca. fünf Stunden, mit dem Auto (über A6 und A4) viereinhalb Stunden

Unterkunft:Das Hotel Le Domaine de Lumères in 9 Rue de Condé, Aisonville-et-Bernoville, ist ein

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Infos: 

Anreise: Mit dem Zug über Paris nach Laon sind es ca. fünf Stunden, mit dem Auto (über A6 und A4) viereinhalb Stunden

Unterkunft:Das Hotel Le Domaine de Lumères in 9 Rue de Condé, Aisonville-et-Bernoville, ist ein ehemaliger Landgasthof mit urigem Charme, gutem Restaurant und gemütlicher Bar; Zimmer ab 85 Euro die Nacht; www.domainedeslumieres.com Le Golf de l’Ailette in 13 Chemin des Dames, Chamouille, liegt malerisch an einem See und verfügt über einen großen Pool; Zimmer ab 114 Euro pro Nacht; www.ailette.fr

Essen: Das St. Jean in 5 Place Jean de La Fontaine, Château-Thierry, bietet hervorragende französische Küche, vor allem das Boeuf Bourguignon ist gut.

Ausflugstipps:Die Champagne ist nicht nur für ihren Schaumwein bekannt – hier fanden auch einige der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs statt. Das amerikanische Ehrenmal bei Château-Thierry samt Museum erinnert daran.

Weitere Infos: Alle Infos zum Departement Aisne findet man auf der Seite des Fremdenverkehrsamts der Region: www.nordfrankreich-erleben.com

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Die Region ist stolz auf ihren Champagner, doch sie hat noch sehr viel mehr zu bieten, und die Eurovelo-Route ist eine gute Möglichkeit, sich davon zu überzeugen. Der Radweg führt in seiner vollen Länge von Norwegen nach Spanien, rund 100 Kilometer davon verlaufen durch die Aisne, viele auf einer einstigen Bahnstrecke. Er führt durch stille, verwunschene Wälder, durch Wiesen und Dörfer, vorbei an Obstgärten und Weinbergen. An einigen Stellen überquert er die namensgebende Aisne, einen schmalen, eher ruhigen Fluss. Menschen begegnet man kaum.

Dafür ragen von Zeit zu Zeit überraschend große, wuchtige Kirchen am Wegesrand auf. Es sind Wehrkirchen, oft noch aus dem Mittelalter stammend und in den blutigen Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts zu festungsartigen Bastionen des Glaubens ausgebaut. Damals war die Thiérache (so der Name des Landstrichs), ein umkämpftes Grenzland, durchzogen und verwüstet von Truppen der spanischen Habsburger. Die Wehrkirchen verwandelten sich in den letzten Zufluchtsort der kriegsgeplagten Bevölkerung: Männer, Frauen und Kinder verschanzten sich in den Gotteshäusern, selbst die Viehherden kamen hier unter. La Bouteille bei Guise gibt bis heute einen guten Eindruck von den unruhigen Zeiten: Mit ihren massiven roten Backsteinmauern, ihren spitzen Türmen und schmalen Fenstern erinnert sie eher an eine Trutzburg denn an eine richtige Kirche.

Etwa 30 Kilometer westlich, in Guise, erhebt sich ein ganz anderes Gebäude, das auf den ersten Blick aussieht wie ein Schloss. Es ist aber kein Schloss, sondern eine steingewordene sozialistische Utopie: Das Familistere, errichtet von Jean-Baptiste Godin.

Das Familistere, gebaut im ausgehenden 19. Jahrhundert, ist die bis heute größte Sozialsiedlung der Welt.

Das Familistere, gebaut im ausgehenden 19. Jahrhundert, ist die bis heute größte Sozialsiedlung der Welt. Godin, Metallwaren-Fabrikant und selbst in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, war beseelt von dem Gedanken, seinen Arbeitern menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Mit seinen drei Flügeln, um einen Innenhof gruppiert, erinnert das Hauptgebäude aus rotem Backstein eher an eine fürstliche Residenz als an eine Werkssiedlung, und das war durchaus so beabsichtigt. Fast 500 Wohnungen für 1700 Menschen – Arbeiter und ihre Familien – umfasst der Gebäudekomplex, sie alle sind hell, sauber und für die damaligen Verhältnisse ausgesprochen groß. Nach außen blickten die Bewohner auf Grünflächen und die träge dahinfließende Aisne, nach innen auf einen glasüberdachten, lichten Innenhof. Die Arbeiter, so Godins Vision, sollten denselben Zugang zu Freizeit, Kultur und vor allem Bildung haben wie wohlhabende Bürger. Zum Wohnkomplex kamen deshalb Gärten und Parkanlagen hinzu, Geschäfte, eine Bäckerei, eine Metzgerei, eine Molkerei, eine Schule, eine Bibliothek, ein Theater und sogar ein Schwimmbad (inklusive Nichtschwimmerbecken).

Fast ein Jahrhundert lang hatte das Projekt Bestand, erst in den 1960er-Jahren wurde es nach einer Firmenübernahme aufgelöst. Heute ist der größte Teil des Gebäudekomplexes ein Museum, das über die ungewöhnliche Idee und Geschichte der einstigen Arbeitersiedlung Auskunft gibt. Die Godin-Werke dagegen existieren bis heute; sie sind einer der größeren Arbeitgeber in einer wenig industrialisierten Region. Ihr Wohlstand basierte lange Zeit vor allem auf der Landwirtschaft, auf Feldfrüchten, Wein – und, ab dem 18. Jahrhundert, auf jenem Produkt, dass der Mönch Dom Pérignon durch einen Zufall entdeckte. Heute ist der Champagner aus der Gegend kaum noch wegzudenken, sein Name eine geschützte Herkunftsbezeichnung: "Champagner" dürfen nur Sekterzeugnisse genannt werden, die aus der Champagne (heute Teil der Großregion Grand Est) sowie Teilen der Picardie und der Île-de-France stammen. An den Hängen der Hügel sieht man die Reihen von Reben, die einmal im Jahr, im September, geerntet werden. Der Champagner muss 15 Monate reifen, erzählt Anna Météyer, die mit ihrem Mann eines der kleineren Güter bewirtschaftet. Seit zwei Jahrzehnten lebt die gebürtige Polin in Frankreich, und wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, leuchten ihre Augen vor Stolz. "Wir haben hier sechs Hektar Land, plus elf, die wir gepachtet haben", berichtet sie, während sie mit ihrer blauen VW-Ente durch die Weinberge ruckelt. "Wir gehören nicht zu den großen Erzeugern, aber wir machen das hier aus Leidenschaft."

Die Champagnererzeugung ist eine Wissenschaft für sich. "Wichtig sind Temperatur, Licht und Bewegung", sagt Anna. Der Champagner lagert erst in großen Stahltanks – Holzfässer werden heute nicht mehr verwendet –, dann in Flaschen, die regelmäßig gedreht werden müssen. Am Ende stehen sie auf dem Kopf, die Ablagerungen sammeln sich im Hals der Flasche, werden schockgefroren und entfernt. Den freigewordenen Platz füllen die Hersteller mit Maische auf, der Zuckergehalt bestimmt die Kategorie: Brut, trocken, halbtrocken.

Von Annas Weinbergen aus sieht man über Rebstöcke hinweg auf die umliegenden Hügel und die Ebene, am Horizont ist die Marne zu sehen. Frankreichs längster Fluss, einst Schauplatz einiger der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs (der Kämpfe am sogenannten Chemin des Dames), ist heute ein beschauliches Naturidyll. Im Zentrum der Aisne führt sie an Laon vorbei, dem Hauptort des Departements.

Blick vom Kirchturm auf Laon. Foto: abs

Gelegen auf einem Hügel über dem Fluss, ist Laon mit seinen 25.000 Einwohnern die größte Stadt des Bezirks. Der Berg ist im Inneren von Höhlen durchzogen, immer wieder sacken Häuser ein und müssen restauriert werden. Dennoch hat sich die mittelalterliche Altstadt innerhalb der Stadtmauern insgesamt gut erhalten. Verwinkelte Straßen und Gassen, altertümliche Häuser mit grauen Steinwänden und dunkelblauen Ziegeldächern sowie eine begrenzte Anzahl an Einwohnern und Touristen machen Laon zu einer sympathisch ruhigen Stadt mit viel historischem Flair.

Heute wenig bekannt, kann Laon auf eine bewegte Geschichte zurückblicken: Die Anhöhe wurde von Kelten und Römern besiedelt, im Frühmittelalter war die Stadt für ein Jahrhundert Hauptstadt des Westfrankenreichs. Das mit Abstand größte Gebäude ist die Kathedrale, deren hohe gotische Türme schon von Weitem zu sehen sind. Eine schmale Wendeltreppe führt auf einen der beiden Westtürme, von dort aus – auf 54 Metern Höhe – hat man einen guten Blick über die Stadt, das Gewirr der Hausdächer und das grüne, hügelige Umland.

Bei klarem Wetter reicht der Blick weit in die Umgebung, bis zur Marne und zur Aisne – jenem schmalen, unscheinbaren und äußerst idyllischen Fluss, der dem unbekannten Kleinod im Osten Frankreichs seinen Namen gibt.