Entschleunigung in Wissembourg
Das Mittelalter grüßt im Elsass: Die Stadt war einst Zankapfel der Mächtigen.

Von Thomas Frenzel
Wissembourg. Nein, auch wenn es aus dem Französischen kommt und perfekt französisch ausgesprochen wird: Aus dem englischen "piece" wird in Frankreich nie und nimmer ein "Stück". Schon gar nicht, wenn es um Kuchen geht. Dann heißt das abgeschnittene Teilchen "morceau"! Die Chefin der Boulangerie Brunck lächelt bei dem sprachlichen Fauxpas mit diesem "pièce" unmerklich, sie korrigiert ihn beiläufig und verpackt die Mandel-Rosinen-Kreationen mit bewundernswerter Akkuratesse.
Später entpuppen sich die beiden Stückchen als gnadenlose Kalorienbomben. An Butter hat der Meister der Backstube nicht gespart, ebenso wenig an Zucker. Typisch französisch und einfach lecker, dieser gefüllte Mürbeteig – zweifelsfrei nichts für Diabetiker und kalorienreich wie mehrere Flammkuchen auf einmal!
Hintergrund
Infos:
Anreise: Mit dem Auto sind es von Heidelberg nach Wissembourg über die A 5 via Karlsruhe knapp 100 Kilometer; schöner ist die Fahrt auf den Landstraßen über Speyer und Bad Bergzabern. Mit der Bahn: Wissembourg gehört zum VRN-Gebiet
Infos:
Anreise: Mit dem Auto sind es von Heidelberg nach Wissembourg über die A 5 via Karlsruhe knapp 100 Kilometer; schöner ist die Fahrt auf den Landstraßen über Speyer und Bad Bergzabern. Mit der Bahn: Wissembourg gehört zum VRN-Gebiet und ist per S-Bahn in zwei Stunden zu erreichen.
Übernachtung: Hotellerie au Cygne mit Restaurant, 15. bis 17. Jahrhundert zentral neben dem Rathaus, gehört zu den "Logis de France"; ab 90 Euro; www.hostellerie-cygne.com
Gleich nebenan: das Gästehaus "Au Faucon" ab 79 Euro (www.aufaucon.eu) und "La Couronne" mit Restaurant ab 75 Euro; www.couronne-wissembourg.com
Essen & Einkaufen:Restaurant Le Petit Dominicain (www.restaurantlepetitdominicain.fr); Café Au Petit Kougelhopf, 20 Rue nationale; Patisserie Daniel Rebert, 7 Place du Marché aux Choux; Le Goût du Terroir (Käse aus Riquewihr), 30 Rue nationale; Auchan Supermarché, 2 Rue des Quatre Vents.
Ausflüge:Château Fort de Fleckenstein, nordvogesische Felsenburg; (www.fleckenstein.fr), Maginot-Linie Fort Schoenenbourg, Hunspach; www.lignemaginot.com
Weitere Infos: Office de Tourisme de l‘Alsace Vert, zum Regionalen Naturpark Nordvogesen, 2 Place du Saumon, F-67160 Wissembourg; www.alsace-verte.com
Der Ort dieses Geschehens liegt keine anderthalb Stunden von Heidelberg entfernt: Wissembourg. Im Hochdeutschen ist von "Weißenburg" die Rede, im örtlichen Dialekt heißt das 7500-Seelen-Städtchen "Weisseburch". Zumindest eines machen diese Bezeichnungen überdeutlich: Die ursprüngliche Klostergründung aus dem 7. Jahrhundert war immer ein Zankapfel.
Auch der Heidelberger Pfalzgraf hatte da seine Finger im Spiel. Das Blutvergießen war den jeweiligen Machthabern – sprachliches Gendern unmöglich! – egal. Denn es war ja nicht ihr eigenes Blut, mit dem sie die französisch-deutsche Grenzregion tränkten. Wie zuletzt zum Beginn und zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die jüngsten Zeugnisse dieser Auseinandersetzungen lassen sich noch heute besichtigen. Das eine steht, quasi einen Steinwurf von Wissembourg entfernt, auf deutscher Seite in Schweigen: das Deutsche Weintor. Die Nazis hatten es 1936 errichtet, als bewusste Provokation gegenüber den Nachbarn. Diese wiederum hatten in den 1930er Jahren auf Initiative ihres Kriegsministers André Maginot versucht, sich – wie im nahen Schoenenbourg – mit dem Bau von neuen Bunkersystemen gegen einen deutschen Überfall zu wappnen.
Das ist glücklicherweise Schnee von gestern – dem gemeinsamen Europa sei Dank! Die Passage aus der Pfalz in das Elsass vollzieht sich völlig unaufgeregt. Wären da nicht die Schilder am Straßenrand, man würde den Grenzübertritt kaum wahrnehmen.
Schon wenig später ist das Centre Ville von Wissembourg ausgeschildert, dazu eine Place de la Foire. Dieser Messplatz heißt die automobilen Besucher willkommen. Herzlich willkommen! Hier gibt es weder Wegezoll noch Abschreckung in Form von Parkgebühren. Selbst die "Toilettes publiques" gleich nebenan sind kostenlos!
Das Mittendrin ist nach wenigen Gehminuten erreicht. Rechts und links der Rue nationale reihen sich die Freisitze von Restaurants und Cafés, wobei sich nicht zwingend erschließt, warum wer gerade geschlossen hat oder auch nicht. So ist das nun mal in einem französischen Provinzstädtchen, dessen 1752 errichtetes Rathaus mit vielen blau-weiß-roten Fähnlein ganz Großes verspricht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Das Office de Tourisme – Öffnungszeiten beachten! - empfiehlt sich als Anlaufstelle. Es ist in der mittelalterlichen Zehntscheuer untergebracht. Für eine Handvoll Euro gibt es hier eine schön gemachte Broschüre, die zum entspannten Bummeln viel Wissenswertes beisteuert.

Beispielsweise dass sich um das Jahr 660 die ersten Mönche auf der Insel niederließen, die von den Flüsschen der Lauter gebildet wird. An das spätere Benediktinerkloster erinnert die Abteikirche, die den Aposteln Peter und Paul geweiht ist. Errichtet wurde der heutige Bau im ausgehenden 13. Jahrhundert und er war mit seinen 60 Metern Länge ein steinernes Manifest von Bedeutung: Im gesamten Elsass gibt es nur eine einzige größere Kirche – das Straßburger Münster. Von dem romanischen Vorgängerbau existieren noch der Glockenturm und eine benachbarte kleine Kapelle, in der zu späteren Zeiten auch schon Bierfässer lagerten.
Seine unaufdringliche Pracht entfaltet das gotische Gotteshaus im Innern mit einem mustergültigen Gewölbe, mit dem Chor, mit den Kapellen, die Jesus und Maria huldigen. Von riesigen Gemälden blicken die Apostel Peter und Paul. Gewaltiger ist nur das elf Meter hohe Fresko, das den Modeheiligen des ausgehenden Mittelalters in höfischem Gewandt zeigt: Christopherus, der das Jesuskind auf seinen Schultern trägt und der als Nothelfer vor einem schlimmen Tod bewahren sollte.
Doch genug vom Klerikalen! Wissembourg ist mehr und das lässt sich auf Schritt und Tritt erlaufen. Da ist das selbstbewusste bürgerliche Mittelalter, oft ausgewiesen mit äußerst nachhaltigem Fachwerk, dessen Jahrhunderte überdauernde Baukunst heutige Verbrauchsarchitektur alt aussehen lässt.
So wie bei den beiden Wohnhäusern aus dem 15. Jahrhundert an dem Quai Anselmann genannten Lauter-Ufer, deren Größe auf Reichtum schließen lassen. Oder das unweit entfernte "Maison de Sel", das mit seinem mehrgeschossigen Dach ursprünglich als Bürgerspital, dann als Metzgerei und schließlich als Salzlager genutzt wurde.

Dass der Erhalt dieses Erbes viel Geld verschlingt, mitunter mehr als verfügbar ist, offenbar sich an anderen Stellen. Das irgendwann sanierte und wohl aus dem Jahr 1306 stammende Badhaus bedarf erkennbar einer Auffrischung. Unterhalb des mittelalterlichen Pulverturms, der bis ins 20. Jahrhundert hinein den Norden der Stadt absichern sollte, trotzt ein uralter Gutshof sichtbar seinem Verfallen.
Doch trübe Gedanken sind nicht angesagt. Schon gar nicht bei diesem kleinen Tagesurlaub für zwischendurch. Der Gang entlang der Stadtmauer, die auf weiten Abschnitten dem Flüsschen Lauter folgt, entpuppt sich als Entspannung in innerstädtischem Grün.
Wer will, kann sich bei einem Abstecher auch in königlichem Schein sonnen. Bei jenem großen, aber eher schlichten Barockpalais, das sich ein betuchter Herr Jaeger anno 1722 errichten ließ. Er stellte seinen Neubau jenem polnischen König namens Stanislaus I. Leszczynski zur Verfügung, den die eigenen Leute ins Exil getrieben hatten. Der Grund der Gastfreundschaft: Der französische König Ludwig XV. hatte Interesse am polnischen Königstöchterlein Maria. Offiziell geheiratet wurde 1725 in Straßburg. Danach suchte der polnische Exil-König wieder das Weite. Zurück blieb sein Name. "Palais Stanislas" klingt halt nobler als ein unbekannter "Jaeger".

Apropos Louis XV: Ungeachtet seiner zehn gemeinsamen Kinder mit der polnischen Maria verlustierte sich der König nur zu gerne mit Maitressen. Die Marquise de Pompadour war eine davon, die Comtesse du Barry seine letzte. Beide beflügeln bis heute die Fantasien von Romanciers und Filmemachern.
Und was ist mit der Gegenwart? Mit dieser durch und durch genossenen Auszeit? Für deren Verlängerung empfiehlt sich eine mit Kälte-Akkus bestückte Kühlbox – der Plural ist möglich. Denn im örtlichen Auchan-Supermarkt werden Freunde des essbaren "Savoir vivre" mehr als fündig: Leberpasteten, Käseauswahl, Salamis – alles zum Reinsetzen! Und wer auf Süßes steht: Die Patisserien im Centre Ville bieten verführerisch an, was ein schwaches Herz begehrt …