Das "Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar" (GKN) in Neckarwestheim. Foto: dpa
Neckarwestheim. (bfk) Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar erinnert diese Tage – und das aus mehreren Gründen – daran, dass vor zehn Jahren 60.000 Menschen eine Kette bildeten, die vom Atomkraftwerk Neckarwestheim (oder auch GKN II) bis nach Stuttgart reichte. Die Hauptforderung der Protestler damals war die Abschaltung der Atomkraftwerke, und was sie in diesen Massen damals auf die Straße brachte, war der GAU am 11. März 2011 im Atomkraftwerk in Fukushima, also der "größte anzunehmende Unfall", der sich gerade zum zehnten Mal jährt.
Die Anti-Atom-Bewegung jener Jahre war mit ein Grund dafür, dass die Grünen in Baden-Württemberg inzwischen den Ministerpräsidenten und den Umweltminister stellen. Heute nennt es Wagner "bestürzend", dass "ausgerechnet ein grün geführtes Umweltministerium in Stuttgart nun die akute Gefahr im AKW Neckarwestheim seit Jahren ignoriert". Am kommenden Sonntag steht die nächste Aktion und Demo an, mit teils prominenten Rednern und einem Protestzug (unter Corona-entsprechenden Hygienemaßnahmen) ab 13 Uhr und ab Bahnhof Kirchheim/Neckar.
Neben dem "Fukushima-Jahrestag" bietet ein Gutachten den aktuellen Anlass zur Empörung. In diesem wird behauptet, dass vom AKW Neckarwestheim eine Gefahr ausgeht. Es stammt vom "ehemals höchsten Atomaufseher im Bundesumweltministerium", der hierin "die akute Gefahr eines schweren Unfalls" bestätigt und damit das bestätigt, was die Atomkraftgegner seit Jahren befürchten. Mit dem Gutachten im Rücken erinnert die Bewegung nun erneut daran, dass man auch in Fukushima jahrelange Warnungen missachtet habe.
Der Gutachter Dieter Majer, ehemalige Atom-Aufseher im Bundesumweltministerium, Ministerialrat und Diplom-Ingenieur, hält der baden-württembergischen Atomaufsicht schwere Versäumnisse beim AKW Neckarwestheim vor. Aber auch die Vorwürfe von Wagner sind massiv: Geheimniskrämerei, Diskussionsverweigerung und Maulkorb für Experten. Das Umweltministerium in Stuttgart interessiere sich nicht und wolle auch nicht "die fachlichen Fragen" diskutieren.
In der Sache geht es um Risse in den Rohren des AKW, durch die radioaktives Wasser austreten kann. Auf der Homepage des Stuttgarter Staatsministerium liest man dazu dies: "Das Problem der schadhaften Dampferzeuger-Heizrohre ist seit 2018 bekannt und von mehreren unabhängigen Sachverständigen sowie der Reaktorsicherheitskommission gründlich untersucht worden. Die Anlage GKN II kann demnach auf der Basis des kerntechnischen Regelwerks und des Standes von Wissenschaft und Technik sicher betrieben werden. Neue Erkenntnisse zum Sachverhalt liegen nicht vor."
Wenn nun aber die bisher offiziell nicht zur Kenntnisse genommen "neuen Erkenntnisse" ausgerechnet von dem Mann kommen, der die Abteilung "Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen" im Bundesumweltministerium geleitet hat, kommt doch die Frage auf, warum dessen Einwände in Stuttgart – zumindest bisher – auf taube Ohren stoßen.
Laut Wagner ist die "Spannungsrisskorrosion in dem Reaktor nach internationalen Maßstäben als INES-2-Ereignis (Störfall) zu werten – auf der gleichen Stufe wie der Beinahe-GAU im schwedischen AKW Forsmark 2006". Die Atomaufsicht in Stuttgart gehe hingegen immer noch von einem "Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung" (INES 0) aus.
Majer wirft dem Ministerium in seinem am Donnerstag öffentlich gewordenen Gutachten zudem vor, "das kerntechnische Regelwerk zu missachten und seine atomrechtlichen Aufsichtspflichten zu verletzen". Eines dürfte also sicher sein: "Brennstoff" für politische Auseinandersetzungen wird das AKW Neckarwestheim immer noch genügend liefern.