Plus Paul Kirchhof im RNZ-Interview

"Wir dürfen den Russen nicht die Hoffnung nehmen"

Er ist nicht nur der "Professor aus Heidelberg", sondern auch ein deutscher Ausnahmejurist und überzeugte Anhänger der Freiheit. Ein Gespräch mit Paul Kirchhof über die Verantwortung von Politik.

19.02.2023 UPDATE: 19.02.2023 20:00 Uhr 10 Minuten, 27 Sekunden
Am morgigen Dienstag feiert der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts seinen 80. Geburtstag. Archivfoto: Stefan Kresin/RNZ-Repro

Von Klaus Welzel

Herr Professor Kirchhof, wie lange brauchen Sie, um ihre Einkommenssteuererklärung auszufüllen?

Ich brauche schon zwei Tage. Jedes Mal hat sich das Recht geändert, jedes Mal bei mir der Sachverhalt ein bißchen verschoben und jedes Mal steigen die bürokratischen Anforderungen.

Ich nehme aber an, die aktuelle Grundsteuererklärung war für Sie im Vergleich ein Klacks?

Diese Erklärung ist ein typisches Beispiel für die Entwicklung des Steuerrechts, das nicht nur Geld kostet, sondern auch immer mehr Zeit fordert. Die Gemeinde verfügt über die Grundsteuerdaten, die sie vom Bürger verlangt. Sie erwartet vom Steuerpflichtigen ein Wissen, das diesem oft nicht oder nur schwer zugänglich ist. Das ist nicht der Rechtsstaat, der die Freiheit des Bürgers schont.

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Sie sehen, wir starten gleich mit Ihrem Vorschlag für ein neues Einfachsteuerrecht. Glauben Sie, dass ein Skandal wie bei Wirecard, bei dem es ja um 1,7 Milliarden "verschwundene" Euro geht, vermeidbar wäre aufgrund Ihres Gesetzentwurfes?

Das Einfachsteuerrecht fragt: Wie viel Gewinn hast Du verdient? Dieser Frage kann der Steuerpflichtige beantworten, wenn er weiß, was er mit seiner Arbeitskraft, seinen Produkten, seiner Dienstleistung verdient hat. Der Finanzmarkt hingegen hat keinen Bezug mehr zu einem Produkt, keinen Bezug zu einem Unternehmen, keinen Bezug zu einer Volkswirtschaft. Er handelt mit Konstrukten, die nur noch Hoffnung, Erwartung, Wagnis sind, eher Spiel und Wette als Güteraustausch. Zudem bedient sich der Finanzmarkt der Digitalisierungstechnik, handelt durch ein ortloses Unternehmen ohne Firmensitz und ohne Betriebsstätte, kann deshalb nur schwer einem nationalen Steuerrecht zugeordnet werden. Die Akteure des Finanzmarktes können ihre Gewinne so in der Welt herumschieben, dass sie möglichst wenig Steuern zahlen. Dadurch wird das Rechtsbewusstsein auf Dauer getrübt.

Gibt es das auch im kleineren Rahmen?

Ja, wenn ein Unternehmer seine OHG in eine GmbH umwandelt, kann er dadurch viel Steuern sparen. Das versteht nur der Steuerberater, rät dann zu einem Wechsel der Rechtsform, die das Gesetz erlaubt. So verliert das Steuerrecht seine innere Glaubwürdigkeit und Einsichtigkeit. Besteuert wird nicht mehr die individuelle Leistungsfähigkeit, sondern das steuermeidende Konstrukt. Zudem gilt auf dem Finanzmarkt die Anonymität als Geschäftsmodell. Beim Fonds darf der Anleger nicht wissen, bei wem er investiert. Er schöpft aus Verlusten einen Gewinn. Alle Regeln des normalen Wirtschaftens sind auf den Kopf gestellt.

Um bei Wirecard zu bleiben: Im Prozess offenbart jetzt ein Kronzeuge die Firmengeheimnisse; ein so genannter Whistleblower. Der Staat möchte ja genau solche Whistleblower künftig schützen. Ist das der richtige Weg?

Der Staatsanwalt hat das verständliche Anliegen, den kriminellen Sachverhalt aufzuklären. Eine ungesühnte Tat wäre ein Scheitern des Rechtsstaates. Andererseits will ein Staatsanwalt nicht verantworten, dass ein Straftäter eine zu geringe Strafe erhält. Dieses Dilemma fordert einen schonenden Ausgleich zwischen einer wirksamen Strafverfolgung und der Gleichheit der Strafe für die begangene Tat.

Aber Kronzeugenregelungen gibt es ja auch.

Kronzeugen gibt es, so lange es das Strafrecht gibt. Aus jüngster Zeit kennen wir das Problem der Steuer-CDs. Bankmitarbeiter stellen illegal eine CD her, der man entnehmen kann, welche Steuerpflichtigen Steuern hinterzogen haben. Der Staat kauft diese CDs, um die Straftäter zu sanktionieren. Er schafft einen Markt für illegale Produkte. Das ist nicht redlich. Der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Der Rechtsstaat macht sich die Hände schmutzig, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Das ist der falsche Weg.

Zusammenfassend: Sie verurteilen den Ankauf von Steuer-CDs, sprechen sich gegen ein Whistleblower-Gesetz aus, aber die schon lange praktizierte Kronzeugenregelung ist in Ordnung?

Es ist nicht in Ordnung, wenn kriminelle Sachverhalte nicht aufgeklärt werden. Es widerspricht ebenso der rechtsstaatlichen Ordnung, wenn jemand, der das Recht bricht, durch Strafnachlass belohnt wird. Deshalb wird der Rechtsstaat den grundsätzlich missbilligten Kronzeugen allenfalls zulassen, wenn schwere Kriminalität zu verfolgen ist und andere Mittel nicht zur Verfügung stehen.

Im Wahlkampf 2005 holte Sie Angela Merkel in ihr Wahlkampfteam. Am Ende gewann die spätere Kanzlerin, aber Sie wurden kein Finanzminister. Wieso eigentlich?

Ich hatte schon im Wahlkampf erklärt, dass ich bei einer Großen Koalition für mein Grundanliegen, eine gerechte Steuerreform, keine Mehrheit sehe und ich deshalb für eine Große Koalition nicht zur Verfügung stehe. Da war ich im Wort, im bedachten Wort! Ich bin in die Politik gegangen, um ein ausformuliertes, einfaches Steuerrecht in das Bundesgesetzblatt zu bringen. Das war 2005 nach der Wahl nicht möglich.

Im Wahlkampf hat Sie ja neben Gerhard Schröder vor allem die FDP scharf kritisiert. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Wahlkampf?

Ich habe gelernt, dass man ein schlüssiges Konzept wie mein Einfachsteuerrecht zerstören kann, wenn man nur einen Baustein herausbricht. Das Beispiel war die Krankenschwester, die schlechter gestellt wäre, wenn die Vergünstigung für Nachtzuschläge entfällt. Die Empörung über diese Schlechterstellung war allgemein. Wenn ich in meinen Veranstaltungen erklärt habe, dass die Krankenschwester im Gesamtkonzept weniger Steuern zahlen muss und ihre Steuererklärung auf zwei Seiten erledigen kann, fand ich allgemeine Zustimmung. Ich habe dann ergänzend gefragt, wer verantwortlich sei, wenn eine Krankenschwester für ihre wertvolle Arbeit nicht ausreichend bezahlt werde: der Arbeitgeber oder der Steuerzahler? Diese Fragen habe ich von München bis Flensburg mit den Menschen diskutiert – und alle haben das Konzept verstanden. Alle!

Überhaupt kam Ihre Botschaft vom einfacheren Steuerrecht doch gut an?

Das habe ich damals wie heute so empfunden. Wenn wir gegenwärtig über die Grundsteuer und die Erbschaftsteuer diskutieren, verspüren die Menschen, dass die Verkomplizierung und die Steuervermeidungsstrategien der Steuergerechtigkeit widersprechen. Die Steuererklärung wird zum Schachspiel mit dem Finanzamt, bei dem derjenige gewinnt, der die geschicktesten Züge macht.

Gibt es etwas, das Ihnen an ihrem fünfwöchigen Ausflug in die Politik gut gefallen hat?

Mir hat das Gespräch mit den Wählern gefallen. Steuerrecht ist ein schwieriges, für den Wahlkampf eigentlich ungeeignetes Thema. Es konnte aber vermittelt werden, wenn wir uns auf das Konzept von Rede und Gegenrede einlassen. Die Politik unterschätzt den Wähler. Dieser ist durchaus bereit, sich mit anspruchsvollen Themen auseinanderzusetzen, auch schwierige Lösungen zu akzeptieren, wenn sie innerlich überzeugen. Voraussetzungen sind Zeit und Gelassenheit, um in Ruhe zu denken und zu entscheiden.

Sie haben ein Jahr später in der FAZ gelbe und rote Karten für Politiker gefordert, die sogenannte "Informationsfouls" begehen. Wer wäre der Schiedsrichter? Und wann wäre eine dieser Karten gerechtfertigt?

Gerechtfertigt wäre die rote Karte, wenn jemand wissentlich etwas Falsches über einen Konkurrenten verbreitet. Als Schiedsrichter haben wir an die Presse gedacht.

Ich glaube, wir sind da ungeeignet. Wir können kommentieren, einordnen, aber richten? Nein.

Ich hatte damals aus eigener Erfahrung beobachtet, dass bewusst falsche Aussagen getroffen werden …

… dann wäre aber jede Talkshow sofort am Ende, wenn Unwahrheiten dort geahndet würden ….

... ich würde weniger von "Unwahrheiten" sprechen. Ich wehre mich dagegen, dass jemand bewusst etwas Falsches in Umlauf bringt.

Die meisten Falschinformationen werden ja heutzutage durch das Internet verbreitet - oftmals anonym. Welchen Regelungsvorschlag hätten Sie denn dafür?

Wir müssen das im Internet geläufige Geschäftsmodell der Anonymität beenden. Die Sicherheit, nicht zu einer Aussage stehen zu müssen, verführt zum Beispiel Schüler, ihre Lehrer zu denunzieren. Wir haben das in unserem Bekanntenkreis erlebt. Die Anonymität ist die organisierte Unverantwortlichkeit. Wenn Sie in Ihrer Zeitung etwas schreiben, stehen Sie mit Ihrem Namen für diese Aussage. Im Internet fehlt diese persönliche Verantwortung. Deswegen gibt es auch nicht hinreichend Sanktionsmöglichkeiten, wenn Fehlinformationen verbreitet werden.

Dennoch verlagert sich immer mehr Informationsaustausch ins Netz. Auch wir als Zeitung nutzen dieses Medium, weil sich das Leben vieler Menschen längst verlagert hat.

Das fängt im Kindesalter an. Die Kinder erleben in den digitalen Medien Ansprachen, Vorbilder und Wettspiele, in denen Häme, Niedertracht und Totschlag alltäglich sind. Auch wir haben Cowboy und Indianer gespielt. Doch die heutigen in Wort und Bild realistischen Darstellungen vom Leiden anderer setzt wehrlose Kinder einem Einfluss aus, der ängstigt, entmutigt, das Selbstbewusstsein schwächt. Zugleich sind die Institutionen geschwächt, die bisher die Kinder zur Freiheit qualifiziert haben. Die Kirchen stehen vor einer grundlegenden Erneuerung, um wieder Autorität für Ethos und Anstand zu sein. Der Sport bringt den Kindern weiter Fairness und Fitness bei, ist mittlerweile aber stark kommerzialisiert. Die kulturellen und gesellschaftlichen Vereine verlieren Einfluss auf die Jugendlichen. Lehrer sind teilweise überfordert, treffen auf Kinder, die in ihren Familien nicht hinreichend erzogen, in anderen Fällen nicht genügend in den deutschen Sprach- und Kulturraum einbezogen worden sind. Es fehlt an der Qualifikation zur Freiheit, weil Schule, Kirche, Sport und Vereine diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen.

Apropos Qualifikation zur Freiheit: Wie bewerten Sie das Handeln der Bundesregierung in Angesicht des Krieges in der Ukraine umgeht?

Die Regierung steht vor Herausforderungen, die so nicht zu erwarten waren. Die Grünen waren angetreten, um das Klima zu retten. Sie müssen jetzt Gas in aller Welt – auch in klimafeindlich produzierenden Regionen – kaufen, in Deutschland Kohlekraftwerke stilllegen, dann aber den Energiebedarf im Ausland mit ökotechnisch schlechter ausgestatteten Kohlekraftwerken decken. Die Gesamtökobilanz aus der Stilllegung in Deutschland ist dann negativ. Der Zwiespalt ist ähnlich wie bei den Steuer-CDs.

Oder im Fall der Klimakleber?

Ich habe jüngst mit einigen Demonstranten gesprochen, die auf der Autobahn den Verkehr lahmgelegt hatten. Sie haben erklärt, sie müssten diesen Weg in die Illegalität wählen, weil ihnen sonst niemand zuhöre. Diese Aussage ist alarmierend. Sie verlässt unseren gesellschaftlichen Grundkonsens, die Konflikte in Rede und Gegenrede, allein in sprachlicher Auseinandersetzung, zu lösen. Wenn nun jemand, der in diesen Gesprächen nicht hinreichend Gehör zu finden glaubt, zur Gewalt greift, verlässt er den Weg der freiheitlichen Demokratie und geht den ersten Schritt in eine Diktatur, die das Wissen der Wahrheit für sich beansprucht. Die jungen Demonstranten haben viel für den Klimaschutz getan, diskreditieren aber jetzt ihr eigenes Anliegen.

Was bedeutet das für die Ukrainepolitik der Bundesregierung?

Die Grünen mussten die Energie sichern und den Umweltschutz vorübergehend zurückstellen. Die SPD wollte sich um das Soziale kümmern, muss jetzt die Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik stärken. Die FDP wollte die Stabilität von Geld, Recht und Wachstum gewährleisten, hat jetzt durch eine legalistische Verfassungsdurchbrechung einen 100-Milliarden-Kredit für die Bundeswehr ermöglicht.

Der Krieg setzte eine neue Agenda auf.

Der Krieg hat das Recht gebrochen, insbesondere das Recht der Vereinten Nationen, die Europäische Menschenrechtskonvention, bilaterale Friedensversprechen. Als Reaktion müssen wir zunächst unterscheiden zwischen den Akteuren, die den Krieg führen, und dem russischen Volk. Damit bereiten wir eine Friedenspolitik vor, die nicht nur den Wiederaufbau der Ukraine, sondern auch die Erneuerung Russlands organisiert. Das russische Staatsvolk ist europäischer Nachbar. Diese Menschen sind so in Not, wie wir es wären, wenn wir Kriegspartei wären. Ihnen dürfen wir die Hoffnung auf die Zeit nach dem Krieg nicht nehmen. In einem zweiten Schritt müssen wir als Beitrag zum Frieden der Ukraine helfen, wehrfähig zu werden. Das ist für Deutschland schwer, weil Deutschland selbst nicht wehrfähig ist.

Sie sagen, wir müssen Russland beim Wiederaufbau helfen. Das ist eine Stimme, die ich so bisher nicht gehört habe.

Ich hatte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Moskau Gelegenheit, die ersten Anfänge des dortigen Verfassungsgerichts aus der Nähe zu beobachten. Dort habe ich einen entschiedenen Willen zur Freiheit, zum demokratischen Aufbruch verspürt. Wir dürfen ein Staatsvolk nicht vorschnell negativ qualifizieren. Das Anliegen einer freiheitlichen Demokratie überzeugt jeden, der es kennt und verstanden hat.

Was also tun?

Das Einzige, was uns bleibt, sind Wirtschaftssanktionen, die einen Friedensdruck erzeugen, ohne den Krieg voranzutreiben. Wir haben nicht so viele Möglichkeiten einer effektiven Friedenshilfe. Doch die Wirtschaftssanktionen treffen die Gruppe der wirtschaftlich Starken. So kann die Sanktion zu einer Belastung für die Mächtigen in Russland werden.

Es ist ja eben nicht so, dass Putin der Erste wäre, der Russland nicht voranbringt. Das Land erlebt seit Jahrzehnten Dauerkrise. Was also tun?

Meine Antwort folgt aus meiner Grundüberzeugung, dass eine freiheitliche Wirtschaftsverfassung am Ehesten individuelle Einkommen und allgemeinen Wohlstand sichert. Wenn jeder durch Leistung sein Einkommen verbessern und Vermögen bilden kann, gibt es einen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung. Sind die wirtschaftlichen Erfolge einigen Wenigen vorbehalten, ist das Wirtschaftssystem fehlkonstruiert. Das Land bleibt in einer ökonomischen Dauerkrise.

Wir haben jetzt kaum über Ihre Tätigkeit als Verfassungsrichter gesprochen. Gibt es eine Entscheidung, von der Sie sagen, die würde ich im Rückblick vielleicht anders treffen?

(holt Luft) Das ist eine schwierige Frage. Ich war in Karlsruhe Berichterstatter bei vielen Entscheidungen, die heute als Wegweisungen verstanden werden. Im Euro-Urteil ging es um die Frage, ob Deutschland sich an der Europäischen Währungsunion beteiligen soll. Bei vielen Entscheidungen unmittelbar nach der Wiedervereinigung hatten wir über die Strafbarkeit von Mauerschützen und Spionen zu entscheiden, über die Fünf-Prozent-Klausel bei der ersten gesamtdeutschen Wahl in einem faktisch noch getrennten Wahlgebiet zu urteilen. Wir hatten zu prüfen, ob das Grundgesetz durch Vertrag mit einem noch fremden Staat geändert werden darf. Bei Entscheidungen über den medizinisch-technischen Fortschritt ging es um Elementarfragen der Menschenwürde und des Rechts auf Leben, die neuartig waren, aber am Maßstab einer vertrauten Verfassung beurteilt werden mussten. Wir haben im Senat damals intensiv um die richtigen Wege gerungen, waren uns stets bewusst, dass wir am Anfang des Weges stehen, unsere Nachfolger noch Vieles neu bedenken und nachjustieren müssen. Doch ich würde heute eine Entscheidung nicht grundsätzlich anders treffen.

Sie waren auch beim Familienurteil Berichterstatter?

Meine beiden letzten Urteile betrafen die Familien. Das Verfassungsgericht schützt immer die Schwachen. Der Starke kann sich selbst helfen. Die Schwächsten sind die Kinder, die in unserer stark ökonomisch geprägten Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, außerdem im Rollenverständnis von Mann und Frau immer weniger beachtet werden. Die Wirtschaft ist nicht bereit, in den ersten Jahren nach einer Geburt auf die volle Arbeitskraft von Mutter und Vater zu verzichten. Die Kinderärzte hingegen sagen uns, dass das Kleinkind in den ersten drei Jahren eine Bezugsperson braucht, die für das Kind ständig sichtbar ist. Das kann die Mutter, auch der Vater oder die Oma sein.

Oft ist es die Kita.

In einer Kita wechseln die Betreuerinnen, begegnen den Kindern teilweise nur wenige Stunden, sind für vier bis acht Kinder verantwortlich. Das überfordert. Politisch haben wir weniger ein Familienministerium, mehr ein Familienabbauministerium. Die Folgen verfehlter Familienpolitik sind greifbar bei einigen Kindern in verminderter Lern- und Konzentrationsfähigkeit, heute auch im Fachkräftemangel und in Gefahren für die Demokratie, die in einem gut ausgebildeten, verantwortungsbewussten und entscheidungsfreudigen Staatsvolk ihre Zukunft findet. Deshalb bin ich in Familienfragen engagiert. Wir haben vielleicht ein wenig Terrain gewonnen. Die großen Aufgaben liegen noch vor uns.

Ich würde das nicht so stehen lassen. Als Ursula von der Leyen Familienministerin war, hat sie die Elternzeit eingeführt. Das ist auch ein Erfolg.

Ganz gewiss. Doch wenn das Gesetz ein finanzielles Anreizsystem schafft, um Eltern zu einem Rollentausch bei Wahrnehmung der Elternzeit zu veranlassen, dann fehlt das Vertrauen in die freiheitliche Selbstentscheidungskraft der jungen Eltern.

Und doch trägt das Gesetz einen emanzipatorischen Effekt in sich, weil sich jetzt auch Väter trauen, sich um ihre Kinder zu kümmern.

Mir geht es um das System des finanziellen Anreizes, wenn Entscheidungen aus freiheitlicher Einsicht und Verantwortlichkeit zu treffen sind. Beim Klimaschutz haben wir heute ein allgemeines Rechtsbewusstsein, das zu wesentlichen Verhaltensänderungen verpflichtet. Wenn sich jetzt aber beim Zertifikathandel oder der Beteiligung an Windpark-Gesellschaften ein Finanzanreiz über dieses Rechtsbewusstsein legt, wird die Bereitschaft zum Recht verfremdet. Der Mensch verweigert sich vermehrt dem Klimaschutz, bis ihm seine Weigerung durch eine staatliche Finanzleistung abgekauft wird.

Abschließend: Einmal Heidelberg, immer Heidelberg – was gefällt Ihnen denn so gut an dieser Stadt?

Einmal leben wir in einer schönen Landschaft, die wir nicht missen wollen. Die Universität gibt uns viele wissenschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten, bietet auch kulturelle Vielfalt, die wir auch in Zukunft nutzen werden. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist für mich eine unauffällige Gelehrtengesellschaft, in der Wissenschaftler sich gegenseitig und ehrenamtlich neue Welten des Erklärens und Verstehens erschließen. Besonders ansprechend wirkt die Struktur unserer Stadt. Dazu gehört sicherlich Ihr Medium; das sage ich auch in Gesprächen, an denen kein Vertreter dieser Zeitung beteiligt ist. Wir genießen die volle Hauptstraße, die kleinen Nebengassen mit den Fachgeschäften, auch viele Begegnungen bei unserem fast täglichen Spaziergang im Wald. Heidelberg ist eine Gesellschaft der zurückhaltenden Offenheit. Wir haben die ersten Jahre auf dem Boxberg gelebt, dann im Langgewann, leben jetzt in Ziegelhausen in der Verbundenheit einer örtlichen Gemeinschaft. Heidelberg ist eine Kulturstadt, eine Erlebnisstadt, entfaltet den Zauber der Schönheit, der traditionsreichen Geschichte, der erwartungsvollen Gegenwart. Wenn ich abends aus Karlsruhe gekommen bin und dann das Schloss als Symbol des Unvollkommenen gesehen habe, empfinde ich das auch als eine Lebensphilosophie. Stünde dort das Schloss in perfekter Vollendung, wäre es wohl nicht so authentisch wie die Ruine in ihrer Naturverwachsenheit und Romantik. Zu Heidelberg gehört auch der Charme des Unfertigen.