Welthungerhilfe warnt vor humanitären Katastrophen
Landesdirektor Matthias Späth blickt mit Sorge nach Ostafrika. Für Kinder sei die Gefahr zu verhungern real. Die Klimakrise müsse angegangen werden.



Von Tim Müller
Addis Abeba. Matthias Späth ist Landesdirektor der Welthungerhilfe in Äthiopien und Leiter der Region Horn von Afrika. Die RNZ erreicht ihn per Online-Konferenz in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Herr Spaeth, die UN warnt vor einer katastrophalen Hungerkrise in ganz Ostafrika. Wie lässt sich die Situation bei Ihnen in Äthiopien beschreiben?
Insgesamt habe ich nun 13 Jahre in Äthiopien gelebt, durch meine Arbeit kenne ich viele Einheimische. Sie alle sagen mir, dass die Lage noch nie kritischer war als jetzt – und das trotz der sehr bewegten Geschichte dieses Landes. Bis vor Kurzem ging man von über drei Millionen Binnenflüchtlingen nur in Äthiopien aus. Insgesamt sind aber circa 25 Millionen Menschen von Lebensmittel- oder Wasserlieferungen abhängig. Das ist in etwa jeder fünfte Bürger des Landes.
Wer ist vor allem vom Hunger betroffen?
Kinder, schwangere und stillende Frauen und ältere Menschen leiden besonders. Die Zahl der mangelernährten Kinder ist deutlich gestiegen. Für sie ist die Gefahr zu verhungern real. Mädchen werden teilweise im Kindesalter verheiratet, damit sie den Haushalt der Eltern nicht mehr belasten. Frauen verkaufen ihren Körper, um an Lebensmittel für ihre Familien zu kommen. Auch Kleinbauern und Viehhirten, die sich normalerweise selbstversorgen, sind auf Hilfe angewiesen, da ihre Ernten ausfallen und ihr Vieh verendet ist oder notgeschlachtet wurde. Aus manchen Regionen wie Tigray haben wir gar sehr wenige Informationen. Die Lage könnte also noch schlimmer sein. Eine flächendeckende Hungersnot in weiten Teilen Ostafrikas ist leider ein realistisches Szenario.
Wo liegen die Gründe für die Situation?
Mehrere Krisen überlagern sich hier und sind miteinander verstrickt. Erstens gibt es immer häufiger Dürren durch den Klimawandel, zweitens befinden wir uns noch immer mitten in einer Pandemie, drittens gibt es speziell in Äthiopien eine ganze Reihe ethnisch und politisch motivierte Konflikte und viertens erlebt das Land, auch in Folge des Ukraine-Kriegs, eine historische hohe Inflation, die ganz besonders auf Lebensmittelpreise und Rohstoffe durchschlägt. Wichtige Güter, wie zum Beispiel Dünger, sind auf dem lokalen Markt fast nicht mehr zu bekommen.
Sie haben es bereits angesprochen: Welchen Anteil hat der Klimawandel an der aktuellen Not?
Offiziell gilt die momentan ausgerufene Hungerkrise als durch El Niño verursacht. Dieses globale Wetterphänomen tritt in etwa alle vier bis fünf Jahre auf und kann in Afrika entweder zu sintflutartigen Regenfällen und Unwetter führen oder extreme Temperaturen und Dürren mit sich bringen. Allerdings gibt es diese angenommene Regelmäßigkeit bei El Niño durch den Klimawandel nicht mehr. Wir erleben gerade das vierte Jahr ohne Regenzeit in Folge. Dementsprechend trifft die erneute Dürre nun auf Gesellschaften, die bereits durch drei vorherige am Limit sind. Der Klimawandel macht sozusagen aus dem natürlichen Wetterphänomen eine Dauerkrise.
Das Welternährungsprogramm muss im Südsudan Essensrationen streichen, weil es an staatlichen Zuwendungen und Spenden mangelt. Wie sieht die Situation bei Ihnen aus?
Nicht viel anders. Nach jüngsten Berechnung bräuchte man für die Bewältigung der Krise hier in Ostafrika rund 1,6 Milliarden US-Dollar. Insgesamt stehen derzeit aber nur rund ein Drittel davon zur Verfügung. Die Inflationsrate macht die Versorgung zusätzlich schwer, da die Preise stärker steigen als die zur Verfügung gestellten Mittel. Auch wenn wir bei der Welthungerhilfe bislang keine Spendermüdigkeit feststellen können, stehen wir vor riesigen Herausforderungen.
Sie sagten bereits, dass auch in Äthiopien die Preise für Lebensmittel durch den Ukraine-Krieg gestiegen sind. Von welcher Größenordnung sprechen wir?
Momentan eskaliert die Preisentwicklung. Generell haben wir hier in Äthiopien eine Inflationsrate von rund 35 Prozent. Bei Lebensmittel liegt sie allerdings noch einmal rund acht Prozent höher, bei um die 43 Prozent. Eine Flasche Pflanzenöl kostete vor einigen Monaten noch ein paar Cent, jetzt muss man zwischen sechs und sieben Dollar zahlen. Das ist eine riesige Herausforderung für die allermeisten Menschen hier, ganz zu schweigen von den besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen in den am schwersten betroffenen Regionen.
Ist die aktuelle Not in der Region eine Krise mit Ansage?
Da es momentan mehrere Krisen sind, muss man erst einmal genauer definieren, welche gemeint ist. Wenn wir von den Dürren als Folge des Klimawandels sprechen, dann war das tatsächlich eine Krise mit Ansage. Dass es zu solchen extremen Wetterbedingungen wie jetzt in Ostafrika kommen kann, wissen wir seit dem ersten Bericht des Club of Rome von 1972. Und selbst jetzt wird häufig noch zu zögerlich gehandelt.
Wieso ist das ihrer Meinung nach so?
Also es liegt nicht an den Frühwarnsystemen, die funktionieren gut. Leider haben diese nur eine begrenzte Wirkung. Denn die Reaktion der internationalen Gemeinschaft folgt meist erst, wenn schlimme und grausame Bilder durch die Medien laufen. So scheinen wir Menschen zu sein. Für die Notleidenden ist das bitter.
Sehen Sie eine Art Gleichgültigkeit?
Wie so oft leiden nicht die Hauptverursacher des Klimawandels am Meisten. Vielmehr ist es gerade im Hinblick auf die Klimakrise die mangelnde Bereitschaft reicherer Gesellschaften, grundlegendes zu verändern. Es geht nicht nur darum, dass die Regierungen sich ambitionierte Ziele setzen, um dem Klimawandel entgegenzutreten. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Konsequenzen für sein Leben zieht. Wenn wir nicht unser Konsumverhalten verändern, unsere Mobilität einschränken und unsere Ernährungsmuster überdenken, dann werden wir immer wieder solche Krisen wie jetzt – und noch schlimmere – erleben.
Wie muss Afrikas Gesellschaften langfristig geholfen werden, damit es nicht mehr zu Hungersnöten kommt?
Wir brauchen insgesamt einen anderen Ansatz. Es muss weniger Einzelprojekte von verschiedenen Organisationen geben und dafür mehr ganzheitliche Unterstützung für die Staaten Afrikas. Anstatt an Symptomen zu doktern, müssen grundsätzliche Spielregeln der internationalen und nationalen Märkte, besonders im Ernährungsbereich überdacht werden. Es bedarf verstärkter Investitionen in nachhaltige Dienstleistungsstrukturen in den Bereichen Landwirtschaft, Medizin, Bildung, Frauenförderung nur um einige Bereiche zu nennen. Große Probleme brauchen große Antworten, und die können wir alle nur gemeinsam erarbeiten.