Von Andreas Herholz, RNZ Berlin
Berlin. Cem Özdemir (54), war bis Januar 2018 über neun Jahre lang Parteivorsitzender der Grünen gewesen. Er gilt als möglicher Ministerkandidat im Bund oder auch als Nachfolger von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg.
Herr Özdemir, ganz ehrlich, ein digitaler Parteitag, das ist wie ein Fußballspiel ohne Fans, oder?
Wir hätten alle gerne 40 Jahre nach unserer Gründung am Ort des damaligen Geschehens in Karlsruhe unseren Geburtstag noch einmal gefeiert und mit dem neuen Grundsatzprogramm gleichzeitig einen großen Schritt in Richtung Zukunft gemacht, klar. Aber unser digitaler Parteitag ist für die gesamte Parteienlandschaft historisch und in Pandemiezeiten eine hervorragende Lösung.
Die Partei hat sich auf einen Klimakompromiss geeinigt. Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels und eine CO2-neutrale Wirtschaft, ist das nicht eine Illusion?
Das ist eine riesige Aufgabe, die große Anstrengungen insbesondere von der Wirtschaft verlangt. Als Politik wollen wir ein verlässlicher Partner sein, Forschung und Entwicklung genauso unterstützen wie die Beschäftigten in der Industrie, damit das auch gelingt. Wir sehen gerade, wie viele Unternehmen, wie viele Start-ups sich auf den Weg einer CO2-freien Wirtschaft machen. Mit Joe Biden und Kamala Harris hat das Pariser Abkommen auch auf der anderen Seite des Atlantiks wieder große Unterstützung. Das ist sehr ermutigend.
Die Grünen wollen die Schwarze Null aufgeben und weiter Schulden aufnehmen, um zu investieren. Was ist daran nachhaltig?
Die Schwarze Null war im Bund immer vor allem Symbolpolitik. Wir müssen unser Land dringend modernisieren. Das erfordert große staatliche Investitionen, etwa in exzellent ausgestattete Schulen, digitale Infrastruktur, die Ökologisierung des Verkehrs. Dabei machen wir nicht einfach die Schleusen auf, sondern machen das gezielt und regelbasiert, orientiert an europäischen Regeln. Das wird künftige Generationen stärker entlasten als belasten.
Sie wollen Steuererhöhungen, wie die Vermögensteuer – sind das nicht die falschen Signale in der Krise?
Auch in der Krise hat die Vermögenskonzentration bei wenigen zugenommen. Gleichzeitig verschulden wir uns in Rekordhöhe. Mit einem durchdachten Steuerkonzept, das durchaus einen höheren Spitzensteuersatz beinhalten darf und einer zielgenauen Vermögensbesteuerung können wir die richtigen Signale setzen ohne die notwendige Investitionsfähigkeit gerade kleinerer und mittlerer Unternehmen zu gefährden.
In der Pandemie ist vor allem die Exekutive gefragt. Wie wollen die Grüne da punkten?
Für die Pandemie-Bekämpfung sind vor allem die Länder zuständig. Elf Länder werden von uns Grünen mitregiert. Winfried Kretschmann erfährt viel Unterstützung für seinen Kurs in der Pandemie. Der kommt zwar nicht laut und breitbeinig daher wie so manch anderer Ministerpräsident, aber dafür stimmen die Ergebnisse.
Wenn sich die Partei sich anschickt, Volkspartei zu werden, verliert sie dann nicht ihre Kernklientel?
Für uns wird der Kampf gegen die Klimakrise immer zentral bleiben. Daran ändert sich auch nichts, wenn wir auch in allen anderen Politikbereichen gute Angebote machen. Für diese inhaltliche Verbreitung habe ich mich als Parteivorsitzender zehn Jahre eingesetzt.
Baerbock, Habeck oder mit beiden – mit wem ziehen die Grünen in den Bundestagswahlkampf? Wer wird Kanzlerkandidatin?
Das entscheiden wir im Frühjahr. So lange werden Sie sich noch gedulden müssen.