"Deutschland braucht vermutlich Nachmittagsunterricht"
Von Annette Dönisch, RNZ Berlin
Berlin. Kristina Reiss (67, Foto: dpa) ist Bildungsforscherin und Koordinatorin des deutschen Teils der siebten Pisa-Studie.
Frau Reiss, Deutschland liegt beim neuen Pisa-Test im oberen Mittelfeld. Welche Schulnote würden Sie geben?
Eine Zwei bis Drei. Im Großen und Ganzen ist es ein gutes Ergebnis. Deutschland liegt über dem Durchschnitt der OECD. Es steht in einer Reihe mit Staaten wie Frankreich und Schweden. Dennoch: In allen drei Bereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – hat Deutschland 20 Prozent leistungsschwache Schüler. Das ist besorgniserregend. Wir haben weniger Leistungsstarke in der Mathematik als 2012, allerdings mehr im Lesen als 2009.
Warum schafft es Deutschland nicht in die Spitzengruppe?
Bildung hat in diesem Land immer noch nicht den Stellenwert, den sie bräuchte. Deutschland ist ein Land ohne Rohstoffe. Es ist auf die Köpfe der Menschen angewiesen. Die Mathematik hat einen zu geringen Stellenwert. Die Lesefreude der Jugendlichen nimmt ab. 50 Prozent der Jugendlichen lesen nur, wenn es unbedingt sein muss.
Zudem liest jeder fünfte Schüler laut des Pisa-Ergebnisses sehr schlecht, noch nicht einmal auf Grundschulniveau. Ist das ein neuer Pisa-Schock?
Nein, diese Einschätzung ist nicht angemessen. Deutschland muss aber mehr für die schwächeren Schüler tun. Schon in der Grundschule wurden bei den 15-Jährigen diese grundlegenden Dinge nicht vermittelt. Die Ursachen liegen zum Teil bereits im vorschulischen Bereich. Wir wissen, dass sich Kindergartenzeiten von über einem Jahr positiv auf die Lesekompetenz auswirken. Wir wissen, dass sich Deutschkenntnisse positiv auf die Lesekompetenz auswirken. Wir müssten auch nicht nur das Bildungssystem auf Mindest-Standards hin testen, sondern jedes einzelne Kind und daraus eine Förderung ableiten. Die Schule und das Bildungssystem haben eine Verantwortung, dass jedes einzelne Kind Ziele erreicht. Kein Kind darf zurückbleiben.
„Kein Kind darf zurückbleiben“ gilt in Deutschland allerdings offenbar nicht, denn die soziale Herkunft spielt noch immer eine große Rolle. Wie kann mehr Chancengleichheit erreicht werden?
Deutschland braucht vermutlich Nachmittagsunterricht, damit das Bildungsangebot besser individualisiert werden kann. Benötigt wird insbesondere eine spezifische Sprach- oder Mathematikförderung. Es braucht mehr Zeit für das Lernen. In Deutschland haben wir traditionell Vormittagsunterricht. Mittelschichts-kinder haben nachmittags Musik- oder Sportunterricht und dadurch weitere Bildungsangebote. Kinder, die nicht so privilegiert sind, sind dann mehr oder weniger sich selbst überlassen. Es gibt Kinder, die haben zu Hause keinen vollen Bücherschrank. Deutschland braucht mehr Angebote für diese Kinder, schon ab dem Kindergarten. Die Benachteiligung muss das Bildungssystem ausgleichen.
Welchen Einfluss haben Smartphone und soziale Netzwerke auf die Schulbildung der Kinder?
Die Jugendlichen können auf ihrem Smartphone Filme ansehen, zum Beispiel bei Youtube. Sie müssen nicht mehr lesen, um sich Informationen zu beschaffen, zumindest nicht in einem Buch. Ich vermute, dass die Videoangebote Auswirkungen haben. Die Realität lässt sich nicht verändern, aber wir müssen lernen, damit besser umzugehen.
Bei den Naturwissenschaften liegt Deutschland unter den Top Zwölf Ländern. Ist das ein Lichtblick?
Deutschland ist in diesem Bereich deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Es gibt keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Es gibt zwar auch knapp 20 Prozent Leistungsschwache, aber immerhin nur knapp. Und der Anteil der Leistungsstarken ist im internationalen Vergleich gut. Das ist ein Lichtblick.
Ist der Bildungsföderalismus in Deutschland mehr ein Vorteil oder ein Handicap? Wäre ein Zentralabitur besser?
Es ist wichtiger, in der Kindheit für gleiche Bildungsbedingungen zu sorgen als am Ende der Schulzeit. Bei der Bildung ist am wichtigsten, was in sehr, sehr jungen Jahren passiert – wenn Sprachfähigkeiten entwickelt werden, wenn Interesse an Naturwissenschaften entsteht. Die frühkindliche Bildung, die Grundschule und die ersten zwei Jahre der weiterführenden Bildung, das sind die entscheidenden Stellschrauben in unserem System.