Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Der Politologe Wolfgang Merkel (65) leitet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Abteilung "Demokratie und Demokratisierung". Zuvor war Merkel (Foto: WZB/Ausserhofer) von 1998 bis 2004 Professor an der Universität Heidelberg.
Vor allem Unionspolitiker sagen: Eine Minderheitsregierung ist zu instabil, zu wenig verlässlich für Deutschland in Europa. Ein treffendes Argument?
Nein, das ist es nicht. Richtig ist, dass Deutschland keine demokratische Erfahrung mit Minderheitsregierungen hat. Deutschland ist politisch und wirtschaftlich ein außerordentlich stabiles Land in der EU. Es könnte in solch einen innovativen Lernprozess der Demokratie einsteigen. Dass die CDU/CSU gerne eine feste Mehrheit hätte, das kann ich gut verstehen. Aber das ist eher eine parteiliche Motivation als eine, die am Gemeinwohl orientiert ist.
Eine Minderheitsregierung, die für jedes Projekt um Zustimmung werben muss - wäre das die demokratisch sauberste Alternative?
Das glaube ich schon, weil dann wirklich mit Sachargumenten um Zustimmung gerungen werden muss. Das wertet das Parlament auf. Wir haben in den letzten Jahren ein Übergewicht der Exekutive erlebt. Insofern stünde es unserer Demokratie gut an, endlich wieder dem Parlament mehr Gewicht zu verleihen. Nicht die Regierung, sondern das Parlament ist in einer repräsentativen Demokratie der eigentliche Kern. Ich erwarte bessere Diskussionen, überzeugendere Rechtfertigungsmuster und mehr Transparenz. Das ist eine Option, wie wir sie in skandinavischen Ländern schon lange kennen.
Überspitzt gesagt: Eine Minderheitsregierung würde niemals Partikularinteressen wie die Hotelsteuer oder die PKW-Maut durchs Parlament bringen?
Vermutlich: Da würde es keine Mehrheiten geben. Bei der Hotelsteuer müssten sich alle zustimmenden Parteien vor der Öffentlichkeit schämen. Bei der Maut auch, weil das ein reines und überflüssiges CSU-Symbolprojekt ist.
Sie haben Skandinavien als Vorbild angesprochen. Welche empirischen Erfahrungen gibt es da - wie gut funktionieren Minderheitsregierungen?
Sie schlagen sich nicht schlechter als feste Koalitionen. Die Regierungen sind nicht instabiler. Allerdings muss man dazusagen: In Skandinavien gibt es eine lange Tradition von konsensueller Politikgestaltung. Das ist in Deutschland sicherlich nicht so ausgeprägt. Aber ich meine, unsere demokratischen Parteien wären dazu in der Lage. Sie müssten etwas von ihrem Parteienegoismus - den ich verstehen kann - zurücktreten und sich stärker am Gemeinwohl orientieren. Vielleicht vertraut dann die Öffentlichkeit den Parteien wieder mehr, als das jetzt der Fall ist.
Wäre ein Unterschied, dass Dänemark nur eine Parlamentskammer hat? Wenn dort eine Mehrheit steht, ist das Gesetz durch. Bei uns kommt erst noch der Bundesrat ins Spiel.
Aber das haben wir ja so und so, dass der Bundesrat bei rund zwei Dritteln der Gesetze zustimmen muss. Dafür haben wir aber gute Institutionen wie den Vermittlungsausschuss. Da erwarte ich mit einzelnen Gesetzesmehrheiten nicht unbedingt schwierigere Verhandlungen mit dem Bundesrat.
Aber es würde eben nicht nur im Parlament um Zustimmung gerungen, sondern die Entscheidung doch wieder zwischen den Parteien im Hinterzimmer oder Vermittlungsausschuss fallen.
Auch der Bundesrat wird von der Öffentlichkeit beleuchtet. Und die Rechtfertigungen werden nicht so einfach gehen, man wird das inhaltlich stärker rechtfertigen. Das wird nicht von Anfang an perfekt laufen. Aber ich glaube, dass die Parteien mit Ausnahme der AfD doch soweit konsensoffen sind, dass das keine zusätzliche Hürde wird.
Wie steht es um eine Große Koalition?
Das hielte ich für wenig innovativ. Wenn die SPD über ihren parteilichen Schatten springt, gewissermaßen unter dem Imperativ des Gemeinwohls, dann sollte sie Bedingungen stellen.
Die da wären?
Eine Bedingung könnte heißen: Nach zwei Jahren CDU-Kanzlerin gibt es einen SPD-Kanzler. Eine andere und zusätzliche wäre, die Grünen mit einzubeziehen. Dann gäbe es ein Gleichgewicht des konservativen und des eher progressiven Lagers.
Eine schwarz-rot-grüne Koalition?
Genau. Das müsste die SPD fordern, um nicht schon wieder skalpiert zu werden in einer solchen Großen Koalition. Und ich wundere mich, dass sie auf eine solche Option bislang nicht gekommen ist.
Noch ein Blick in die Glaskugel: Was für eine Regierung werden wir bekommen?
Der große bayerische Philosoph Karl Valentin hat einmal gesagt: "Prognosen sind besonders dann schwierig, wenn sie in die Zukunft gerichtet sind." Ich glaube, es werden wohl erst alle Koalitionsoptionen getestet, die irgendwie denkbar sind, bevor man den Schritt zu Neuwahlen macht. Letzteres hielte ich für die schlechteste Option. Das würde den Parteien und möglicherweise der gesamten Demokratie erneut Vertrauen aus der Bevölkerung entziehen.