14.01.2018, Tunesien, Tunis: Demonstranten gehen zum Jahrestag der Revolution auf die Straßen, um gegen gestiegene Preise und ein neues Finanzgesetz der Regierung zu protestieren. Foto: dpa
Von Johannes Schmitt-Tegge,
Ramadan Al-Fatash und Tarak Guizani
Tunis. Dem Gemüsehändler, der massenhafte Proteste und damit politische Umwälzungen in mehreren arabischen Ländern lostreten sollte, ist heute ein Denkmal gewidmet. Mohammed Bouazizi hatte sich am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid selbst angezündet – aus Verzweiflung über seine Lebenslage und die Willkür der Behörden. Einige Wochen später erlag der 26-Jährige seinen Verletzungen. Es war der Funke, der ein politisches Pulverfass in Nordafrika und dem Nahen Osten explodieren lassen sollte. Die Welle, die später auch "Arabischer Frühling" genannt wurde, nahm ihren Lauf.
Die Region schien von der Aufbruchstimmung damals wie elektrisiert. Autoritäre Langzeitherrscher wie Ägyptens Präsident Husni Mubarak oder Tunesiens Zine El Abidine Ben Ali, der im Januar 2011 die Flucht ergriff, wurden zu Fall gebracht. Ziele wie mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit, ein Ende der Korruption und politische Mitsprache, von der vor allem junge Menschen träumten, schienen endlich greifbar.
Doch zehn Jahre später fällt die Bilanz selbst in Tunesien, das gern als Musterknabe für demokratischen Wandel bezeichnet wird, ernüchternd aus. Der Weg zur Demokratie ist dort steiniger als erhofft. Von schweren Gefühlen voller "Frust" und "Enttäuschung" spricht etwa Abdel-Hamid al-Hamadi, Aktivist eines Arbeitslosenverbands in Sidi Bouzid, einer unscheinbaren Kleinstadt, weit entfernt von den Zentren. "Heute schreiben wir das Jahr 2020, aber wir haben dieselben Bedingungen wie 2010", sagt er.
Tatsächlich blicken die Tunesier zunehmend kritisch auf die Zeit seit der Revolution, die zur Flucht Ben Alis und den ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes führte. In einer Umfrage im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung erklärten 77 Prozent der Befragten, dass sich die wirtschaftliche Lage seit 2010 verschlechtert habe. Die Verantwortlichen sind ihrer Ansicht nach: Politiker, Geschäftsleute und der tunesische Staat. In einer weiteren Umfrage meinten 60 Prozent, die sozialen Gräben hätten sich vergrößert.
Wenn die Tunesier am 14. Januar den Tag feiern, an dem Ben Ali 2011 die Flucht ergriff, dürfte bei vielen auch Enttäuschung über die heutige Lage mitschwingen. Denn das Mittelmeerland mit elf Millionen Einwohnern kämpft mit alten Problemen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist nach UN-Angaben mit 35 Prozent weiter sehr hoch, das Vertrauen in die Regierung gering. Korruption sei die "neue Normalität" und heute teils stärker verbreitet als zu Zeiten Ben Alis, berichtete der internationale Rechtsanwaltsverband IBA jüngst.
Fast zeitgleich zum Jahrestag laufen Generalstreiks in mehreren Provinzen. Die Demonstranten beklagen Arbeitslosigkeit und Armut, aber auch die schlechte Gesundheitsversorgung in der Corona-Pandemie und die schwache Infrastruktur. Kommendes Jahr wird die tunesische Wirtschaft um schätzungsweise sieben Prozent schrumpfen. Eine Folge ist laut Ramadan Ben Omar vom Wirtschafts- und Sozialforum FTDES auch mehr illegale Migration über das Mittelmeer in Richtung Europa.
Im Vergleich zu Syrien, Libyen oder dem Jemen, die eigene Proteste erlebten und in Bürgerkriegen versanken, gilt Tunesien dennoch als Erfolgsgeschichte: Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nach demokratischen Standards, die Verabschiedung einer Verfassung 2014, die Zivilgesellschaft und eine freie Presse sind Zeichen des Wandels. 2015 gewann das Quartett für den nationalen Dialog den Friedensnobelpreis für seinen Beitrag zum Aufbau einer Demokratie.
Linkspolitiker Hamma Hammami, einer der prominentesten Gegner Ben Alis, hält eine neue Revolte dennoch für unausweichlich. Zwar hätten die Menschen wichtige Freiheiten gewonnen, sagt er. Diese würden aber bedroht durch "diejenigen, die zuvor an der Macht waren und die hinter den Kulissen immer noch Einfluss haben", sagt Hammami. In sozialen Medien wird dieser Tage bereits dazu aufgerufen, sich zum Jahrestag der Revolution am Parlament zu sammeln.
Tunesien sei "eine noch nicht abgeschlossene Erfolgsgeschichte oder ein noch nicht abgeschlossener Beweis für das Scheitern der Demokratie", schreibt Holger Dix, Leiter des Tunesien-Büros der Adenauer-Stiftung. Parteien – seit der Revolution wurden über 220 gegründet – verlören im zunehmend zersplitterten System an Bedeutung. Und nach den im Schnitt fast jährlichen Regierungswechseln werde das Land politisch instabiler. Die Regierung, derzeit angeführt von Ministerpräsident Hichem Mechichi, befinde sich im "permanenten Krisenmodus".
Gefährlich könnte es werden, wenn das vielfach empfundene Versagen der Regierung mit tragischen Ereignissen zusammenfällt – wie bei der Selbstverbrennung Bouazizis. Im Fall der 15 Babys etwa, die 2019 nach einer Infektion in einem staatlichen Krankenhaus starben. Oder im Fall des Arztes, der Anfang Dezember in den leeren Schacht eines offenbar defekten Fahrstuhls stürzte und starb. In den Tagen nach seinem Tod gingen in Tunis Hunderte auf die Straße.