Nur 32 Kilometer trennen Großbritannien und das europäische Festland an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals. Schiffe transportieren über 2,6 Millionen Lastwagen über die Meerenge, unter dem Grund verkehren Züge im Eurotunnel. Foto: dpa
Von Silvia Kusidlo
Dover. Während sich die Abgeordneten in London unvermindert über das Brexit-Abkommen zanken, braut sich über der Hafenstadt Dover ein unheilvolles Szenario zusammen.
Es sieht so aus: Etwa 10.000 Lastwagen bleiben in Staus hinter den berühmten weißen Klippen stecken oder müssen lange auf stillgelegten Autobahnabschnitten ausharren. Die Luft wird durch das Verkehrschaos immer schlechter. Behörden bleiben zeitweise geschlossen, da die Mitarbeiter ihre Büros nicht erreichen können. Der Abfall stapelt sich in den Straßen, denn für viele Müllwagen gibt es kein Durchkommen. Kinder erreichen ihre Schulen nicht, Lebensmittel vergammeln noch während des Transports in Lkw-Kolonnen.
Die düsteren Vorhersagen stammen nicht aus einem Endzeit-Film, sondern aus einer Studie des Rats der Grafschaft Kent. Realität könnten sie werden, falls Großbritannien am 29. März ohne Abkommen aus der EU ausscheiden sollte. Angesichts der verfahrenen Situation im Parlament scheint das immer realistischer. Am kommenden Dienstag sollen die Abgeordneten über den Austrittsvertrag abstimmen, den Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat.
Der keine 40 Kilometer breite Ärmelkanal zwischen Dover und Calais bietet mit seinen Fähren und dem nahe gelegenen Eurotunnel die wichtigste Verbindung zwischen Großbritannien und dem Festland. Bei einem "No Deal" wären jedoch von einem Tag auf den anderen Zollkontrollen nötig. Die Region würde zum Nadelöhr - und bliebe es Prognosen zufolge bis zu sechs Monate.
Egal, wen man in Dover befragt: Die Leute sind frustriert. "Wir wissen einfach nicht, wie es weitergeht", schimpft eine Mitarbeiterin im Fremdenverkehrsamt. "Die Politiker sagen uns ja nichts." Die Geschäftsführerin eines Drogeriemarkts macht sich zwar keine Sorgen um ihr Warensortiment, aber um ihren Bruder: "Er ist Elektriker und weiß nicht, wie sein Geschäft hier in Dover nach dem Brexit weiterlaufen soll. Wenn die Leute in unsicheren Zeiten keine Häuser mehr bauen, hat er auch keine Arbeit mehr."
Schiffe transportierten 2017 mehr als 2,6 Millionen Lastwagen über die Meeresenge - vollgepackt etwa mit Autoteilen und Medikamenten. Im Nachbarort Folkestone verkehren Züge durch den Eurotunnel; sie transportieren Lkw und Container unter dem Meeresboden auf die andere Seite des Kanals.
Empfindliche Waren können bei zeitraubenden Kontrollen und Staus unbrauchbar werden. Daher platzen die Hallen in Großbritannien schon aus den Nähten. "So viel Lagerkapazitäten, wie gebraucht werden, gibt es gar nicht", sagte kürzlich der Hauptgeschäftsführer der deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer (IHK), Ulrich Hoppe, in London. "Gerade bei Frischprodukten wie Lebensmitteln ist das ein Thema."
Etwa 90 Prozent der Arzneimittel, die nach Großbritannien importiert werden, kommen über Dover. Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock rief Pharmaunternehmen und den staatlichen Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) dazu auf, Medikamente für sechs Wochen zu horten und Arzneien per Flugzeug ins Land zu bringen. Der BBC sagte er im Dezember, die britische Regierung sei inzwischen der größte Abnehmer von Kühlschränken weltweit.
Die über wohl Monate verstopften Straßen werden laut Prognosen Auswirkungen auf viele Bereiche haben. So müsse der Zugang zu Schulen und Krankenhäusern ebenso sichergestellt werden wie der Abtransport von Toten. Um die Situation zu entspannen, sollen möglichst viele Verwaltungsangestellte für bis zu sechs Monate von zuhause arbeiten.
Der Verband für Straßentransporte (RHA) spricht von "grässlichen No-Deal-Plänen" der Regierung und fürchtet eine Katastrophe: Die Pläne für Zollkontrollen seien so praxisfern, dass es acht Stunden dauern könnte, bis ein normaler Lkw aus Calais in Dover freigegeben werde.
London schätzt, dass über die Route Calais-Dover bei einem harten Brexit nur 12 bis 25 Prozent der üblichen Kapazität zu schaffen sind. Die Lastwagen könnten sich auf 50 Kilometern stauen. Paul Carter vom Grafschaftsrat fordert von der Regierung "mehr Informationen, wie sie mit uns künftig zusammenarbeiten will".
Doch das Vertrauen wird oft erschüttert. Hohn und Spott gab es für den Plan der Regierung, mit zusätzlichen Fähren die Lieferengpässe zu verringern: Der Sender BBC fand heraus, dass einer der Aufträge an eine Reederei gegangen war, die ihren Betrieb noch gar nicht aufgenommen hat. Verkehrsminister Chris Grayling verteidigte den Vertrag über 15 Millionen Euro (13,8 Millionen Pfund) mit der "Firma ohne Schiffe" als Förderung eines Start-up-Unternehmens.