Wolfgang Schäuble ist Bundestagspräsident und hat damit das zweithöchste Staatsamt nach dem Bundespräsidenten inne. Foto: dpa
Von Wolfgang Schäuble
Covid-19 wird uns noch länger begleiten. Bevor wir über ein Leben nach Corona nachdenken, müssen wir uns deshalb auf ein Leben mit dem Virus einstellen. Bei all dem furchtbaren Leid, das sich mit der Krise für viele verbindet, ist unser Land bislang vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Dem Gesundheitssystem drohte zu keinem Zeitpunkt die Überforderung, und auch die parlamentarische Demokratie hat sich in der Krise als handlungsfähig erwiesen. Zu Selbstzufriedenheit besteht trotzdem kein Anlass. Die Infektionszahlen steigen mit Ende der Urlaubszeit wieder, und die Ansteckungsgefahr wird mit beginnendem Herbst eher größer. Die schwierigen Abwägungsprozesse zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz einerseits und der Sicherung individueller Freiheitsrechte sowie der Entfaltungsmöglichkeiten von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur andererseits stellen sich uns deshalb weiter.
Die Risiken sind dabei ungleich verteilt. Aus medizinischer Sicht sind Ältere besonders gefährdet, umgekehrt tragen die Jüngeren einen großen Teil der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Wochenlange Schulschließungen beeinträchtigen die Bildungschancen von Kindern, die Wirtschaftskrise die Chancen junger Erwachsener am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Der zu Beginn der Pandemie spürbar gewachsene gesellschaftliche Zusammenhalt wird sich daran beweisen, ob es uns gelingt, hier zu einem vernünftigen und mehrheitlich getragenen Ausgleich der unterschiedlichen und gleichermaßen legitimen Interessen zu kommen. Und zu Lösungen, die tatsächlich ein verantwortungsbewusstes Leben mit dem Virus ermöglichen, eine neue Normalität, in der wir selbstverständlich all das tun, was unter Einhaltung der zwingenden Hygiene- und Abstandsregeln möglich ist, im öffentlichen Bereich und Berufsumfeld genauso wie in der Freizeit.
Nach Monaten der Einschränkungen hat die gesellschaftliche Debatte über die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erkennbar an Schärfe gewonnen: Obwohl Schulen, Geschäfte und Restaurants wieder geöffnet sind, protestieren viele gegen die Corona-Maßnahmen. Das ist ihr gutes Recht. Meinungsfreiheit gilt auch für Ansichten, die einer Mehrheit grob unsozial, manchmal sogar schlicht abwegig erscheinen. Und das Demonstrationsrecht ist ein zentrales Bürgerrecht. Aber es gilt nicht unbeschränkt. Die Grenze liegt da, wo im Verstoß gegen rechtliche Auflagen die Gesundheit anderer mutwillig gefährdet wird, und wo das Gewaltmonopol des Staates angegriffen wird.
Nach den Szenen am Reichstagsgebäude sollte der Letzte verstanden haben, dass es auch Grenzen des Anstands gibt, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft. Der Verantwortung, sich bei seinem Protest nicht von Extremisten instrumentalisieren zu lassen, kann sich niemand entziehen. Gestritten werden darf und soll in der lebendigen Demokratie. Mit Ende der parlamentarischen Sommerpause ist der Ort dafür der Deutsche Bundestag. Hier müssen in öffentlicher Rede und Gegenrede die Argumente und Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar werden. Wenn das im gegenseitigen Respekt gelingt, kann es der aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte Vorbild sein.
Politisch geht es jetzt darum, dafür zu sorgen, dass unser Land aus der disruptiven Krise widerstandsfähiger, souveräner und auch dynamischer hervorgeht. Das gelingt nur gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union. Wir erleben global die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. So richtig es ist, dass der Staat um ihre Existenz fürchtende Unternehmen kurzfristig unterstützt, so wenig lassen sich alle Problem nur mit mehr Geld lösen. Schmerzhafte Anpassungen an die neue Normalität werden unvermeidlich sein. Wachstum entsteht durch Innovation und Produktivitätsfortschritt, und nachhaltiges Wachstum werden wir in Europa nur sichern können, wenn wir qualitativ besser werden, indem wir die Kraft des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts mobilisieren. Dabei kann uns eine Erfahrung helfen, die wir im Lockdown gemacht haben: Als das gesellschaftliche Leben zum Stillstand kam, hat Deutschland eine ungeahnte Beweglichkeit an den Tag gelegt. Familien, Unternehmen und Behörden zeigten eine Flexibilität und Kreativität, die sie sich womöglich selbst zuvor nicht zugetraut hätten. Auf einmal wurden neue Arbeitsformen möglich, Genehmigungen schneller erteilt und Bedenken zurückgestellt. Wir haben gemeinsam bewiesen, dass wir Neues wagen und Experimente eingehen können. Und wir haben die wertvolle Erfahrung gemacht, im Einhalten von individuellem Abstand gesellschaftlich einander näherzurücken. Das Erleben von Knappheit und Beschränkung veränderte vielfach unsere Wertschätzung – wobei wir noch beweisen müssen, als systemrelevant erkannte Berufsgruppen über den Applaus vom Balkon hinaus wirklich besser zu stellen und unzumutbare Arbeits- und Lebensbedingungen gerade ausländischer Arbeitskräfte dauerhaft abzustellen.
Die unmittelbare Bedrohung durch das Corona-Virus darf vor allem nicht den Blick auf die noch weit größeren Bedrohungen der Menschheit verstellen: den Klimawandel, den Raubbau an der Natur und den Verlust an Artenvielfalt – zumal es einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und dem Risiko von Pandemien gibt. Wir müssen zu einem maßvolleren Leben zurückfinden. Die Welt nach Corona wird letztlich nicht in erster Linie vom Virus bestimmt, sondern von unserer Reaktion darauf: ob wir alte Fehler wiederholen oder ob wir aus Übertreibungen der Globalisierung in der Vergangenheit lernen. Ob wir bereit sind zur tief greifenden Veränderung. Wir haben jetzt die Gelegenheit, als Europäer die Weichen für ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell und für einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stellen. Diese Chance sollten wir gemeinsam nutzen. Mit Zuversicht!