Von Michael Abschlag
Heidelberg. Wie wird die Welt im Jahr 2030 aussehen? Vielleicht ist es eine bessere Welt, ohne Rassismus und Homophobie, ohne Klimawandel und Kriege. Das ist zumindest der Wunsch, den Jonathan Zelter in seinem Song "2030" formuliert, den er zu Beginn dieses RNZ-Forums spielt. Beim Hören drängt sich auch noch eine andere Frage auf: Wie wird man im Jahr 2030 auf Corona zurückblicken? Wie wird das Virus die Welt und unsere Gesellschaft verändert haben?
RNZ-Forum "Lockdown - Knockdown"
Produktion: Epicto GmbH
"Lockdown – Knockdown?", lautet der Titel dieses RNZ-Forums, und es soll die vielen Folgen und Verwerfungen der Corona-Krise aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die Veranstaltung selbst zeugt von diesen Veränderungen, denn eine große Veranstaltung vor Zuschauern im Heidelberger Stadttheater ist diesmal nicht möglich. Stattdessen findet das Forum erstmals digital statt, in Zusammenarbeit mit dem Event-Veranstalter Epicto. Aufgezeichnet wird im Streamingstudio des Unternehmens, das liegt in einem Gewerbegebiet am Rande von Edingen-Neckarhausen.
Im Inneren herrscht eine ruhige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre. "On Air", auf Sendung, verkündet ein rotes Licht über dem Studio. Etwa ein Dutzend Mitarbeiter kümmern sich in dem halbdunklen Raum um die Technik: Drei fahrbare Kameras behalten die Gäste im Blick, an Mischpulten wird der Ton reguliert. RNZ-Mitarbeiterin Sophie Feest steht an einem Computer und nimmt die Online-Fragen entgegen.
RNZ-Forum "Lockdown - Knockdown" - die FotogalerieAm vorderen Ende des Raumes befindet sich das Podium, hier haben – mit Corona-gerechtem Abstand – RNZ-Chefredakteur und Moderator Klaus Welzel sowie seine Gäste Platz genommen: der Heidelberger Virologe Hans-Georg Kräusslich, der Geschäftsführer des Heidelberger Basketball-Zweitligisten MLP Academics, Matthias Lautenschläger, und der Psychiater Rainer Holm-Hadulla; zugeschaltet und auf Bildschirmen zu sehen sind die Hotelchefin Caroline von Kretschmann und der Enjoy-Jazz-Intendant Rainer Kern. Hinter ihnen spannt sich eine blaue Leinwand, die Bilder dieser Krise zeigt: Patienten auf der Intensivstation, leere Geschäfte in Frankreich, Kinder mit Corona-Abstand.
Die Diskussionen sind kontrovers, aber sachlich. Braucht es einen harten oder einen eher weichen Lockdown? "Die Diskussion um schärfere Maßnahmen wird bei einem Anstieg sicher kommen", ist sich Virologe Kräusslich sicher. Ein harter Lockdown könne aber auch die Erwartungshaltung wecken: "Jetzt ist es vorbei" – was dann wiederum zu Leichtsinn und einem neuen Anstieg führen könnte.
Für einen harten Lockdown plädiert überraschend Rainer Kern, als Intendant selbst von den Beschränkungen betroffen. "Nach den ersten Öffnungen im Mai hat man den Herbst nicht vorbereitet. Dabei war der Anstieg vorhergesagt", kritisiert er. Unterstützung bekommt er von Matthias Lautenschläger, der einen kurzen, harten Lockdown auch wirtschaftlich für besser als einen längeren und weicheren hält. "Ein harter Lockdown wäre bei der Bevölkerung vertretbar gewesen", sagt er und empfiehlt den Blick nach Asien: "Da ist das Infektionsgeschehen heruntergegangen durch massive Einschnitte."
Die Gegenposition vertritt Rainer Holm-Hadulla, der die sozialen und psychologischen Folgen in den Blick nimmt: "Wir haben einen deutlichen Anstieg von Angsterkrankungen und Depressionen", warnt er. "Wer dafür anfällig ist, für den ist diese Situation hochbrisant." Er empfiehlt deshalb, "kleine Kulturveranstaltungen" zuzulassen. Und bekommt prompt Widerspruch von Hans-Georg Kräusslich: "Ein schnelles Herunterfahren geht nicht mit Lockerungen", so der Virologe.
Einig ist man sich in der Kritik an Bund und Ländern, was Planbarkeit und Kommunikation angeht. "Warum werden die Bereiche mit Hygienekonzept geschlossen, während Flugzeuge und Bahnen voll sind?", fragt Hotelbetreiberin Caroline von Kretschmann. Lautenschläger findet es "nicht begreiflich, dass die Nachverfolgung nicht stärker digitalisiert wird." Und der Musiker Jonathan Zelter, der die freie Zeit immerhin als kreative Pause nutzen konnte, beklagt, das größte Problem sei gewesen, "dass die Dauer nicht absehbar war".
Auch jetzt noch sind Planungen schwierig. Matthias Lautenschläger plant das erste Academics-Spiel für den 27. Dezember – "allerdings wohl ohne Zuschauer". Rainer Kern hatte die Termine für Enjoy Jazz zunächst auf Dezember gelegt, hat nun aber das Festivalende auf die Zeit nach Ostern gelegt; für 2021 ist dann "ein reguläres Festival" geplant. Und Caroline von Kretschmann hofft auf eine Verbesserung der Lage im nächsten Jahr, glaubt aber auch, dass die vollständige wirtschaftliche Erholung erst 2024 erreicht sein wird.
Hans-Georg Kräusslich kann immerhin vorsichtigen Optimismus verbreiten: "Ich glaube, dass wir ab dem Frühjahr langsam lockern können", sagt er. Und prophezeit: "Wir werden nach dieser Pandemie wohl schon sehr bald wieder zur Normalität zurückkehren."
Die Teilnehmer der Diskussion und ihre Positionen:
Hans-Georg KräusslichHans-Georg Kräusslich: Der Heidelberger Virologe informiert regelmäßig im RNZ-Corona-Podcast über die aktuelle Pandemieentwicklung – und ist Berater der Landesregierung. Den Erfolg der bisherigen Einschränkungen sieht er zwiespältig: "Wir haben einen leichten Rückgang, aber der gewünschte starke Abfall ist nicht erreicht", sagt er. Deshalb plädiert er dafür, die Maßnahmen aufrechtzuerhalten. Auch einen Anstieg nach Weihnachten hält Kräusslich für möglich. Seine Prognose: "Wir müssen durchhalten bis März oder April. Ab Mai werden die Zahlen vermutlich deutlich runtergehen, ab September wird wohl die Impfung Erfolge zeigen."
Caroline von KretschmannCaroline von Kretschmann ist als Betreiberin des Hotels "Europäischer Hof" besonders stark von den Einschränkungen betroffen. Sie beklagt vor allem fehlende Planungssicherheit und stockende Hilfen. "Viele Unternehmen stehen am Rande der Insolvenz." Ihr eigenes Unternehmen habe bisher noch keinen einzigen Euro vom Bund erhalten. Das Hotel hat trotz der Beschränkungen offen, ist aber nur zu zwei bis vier Prozent ausgelastet. "Wir wollen offen bleiben, und wir hätten auch hohe Abrüst- und Aufrüstkosten", erklärt von Kretschmann. Spätestens bis Mitte Dezember sollten Hilfen bei den Betrieben ankommen, fordert sie. Und mahnt, mit Blick auf den Begriff "Lockdown light": "Für uns ist es ein harter Lockdown."
Matthias LautenschlägerMatthias Lautenschläger ist Aufsichtsrat der MLP und Geschäftsführer des Basketballteams MLP Academics. Auch er wünscht sich von der Politik eine "proaktivere Kommunikation" – und mehr Möglichkeiten für den Sport, gerade auch den Breitensport. "Die Politik sollte da den Zugang ermöglichen, schließlich ist Sport auch enorm wichtig für die Gesundheit." Zudem gebe es selbst im Spitzensport – außer beim Fußball – keine relevanten Einnahmen durch TV-Gelder. Insgesamt bewertet er das Vorgehen der Politik aber positiv: "Wir hatten da mit wenig Bürokratie zu kämpfen", sagt er. Mit Blick auf seinen Verein verweist er auf das "aufwendige Hygienekonzept" und erklärt: "Was Spiele vor Zuschauern angeht, hoffen wir auf die zweite Jahreshälfte."
Rainer KernRainer Kern ist als Intendant des Enjoy-Jazz-Festivals ebenfalls von den Beschränkungen betroffen – plädiert aber dennoch für einen härteren Lockdown. "Die bisherigen Maßnahmen waren offenbar nicht geeignet, die gesetzten Ziele zu erreichen", sagt er und kritisiert ein "halbgares, lavierendes Krisenmanagement". Er empfiehlt den Blick nach Asien: "Da haben sie die Pandemie weitgehend unter Kontrolle." Allerdings fordert er auch mehr Unterstützung für die Kulturbranche: "Die Situation ist katastrophal", sagt er. "Die kommerziellen Veranstalter brauchen dringend staatliche Hilfe."
Rainer Holm-HadullaRainer Holm-Hadulla nimmt als Psychiater die seelischen Folgen des Lockdowns in den Blick. "Vor allem Kinder und Jugendliche sind durch die Bewegungseinschränkungen betroffen", kritisiert er. "Bei kleinen Kindern wächst die Intelligenz durch Bewegung und auch körperlichen Austausch." Es gebe nun einmal einen Unterschied "zwischen einem 65-Jährigen, der den Lockdown vielleicht nutzt, um ein gutes Buch zu lesen, und einem Ein- oder Zweijährigen". Und auch ein 20-jähriger Student brauche Begegnung, um seine soziale Umwelt aufzubauen. Holm-Hadulla fordert deshalb ein "zielgruppenspezifisches Vorgehen". Sein Plädoyer: "Wir müssen auch die Kollateralschäden sehen."