Der allgegenwärtige Krieg, der nicht genannt werden darf
Was Putins Auftritt im Stadion über seine Ideologie und Vision erzählt

Von Prof. Tanja Penter
Die Feierlichkeiten im Moskauer Luschniki-Stadion am 18. März anlässlich des achten Jahrestages der Krim-Annexion lösten bei westlichen Beobachtern Beklemmungen aus. Unter dem Slogan: "Für eine Welt ohne Nazismus – Für Russland", rechtfertigte Putin seine Politik in der Ukraine. Einige Kommentatoren haben die Veranstaltung als Ausdruck des Drucks gewertet, unter dem die Putin-Führung aktuell steht, die neben dem äußeren auch einen inneren Krieg gegen die Opposition im eigenen Land führt.

Als Historiker wissen wir um die Wirkungsmacht und Eigendynamik ideologischer Mobilisierung. Woraus besteht die Putinsche Ideologie, die eine "nie dagewesene Einheit Russlands" beschwört? Es ist ein verstörendes Konglomerat aus zum Teil widersprüchlichen Elementen, zusammengehalten durch eine Identitätspolitik, in deren Kern das Selbstverständnis als Großmacht steht. Imperiale Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert von einem geeinten allrussischen Volk aus "Großrussen", "Kleinrussen" und "Weißrussen" stehen neben einem wiederbelebten Sowjetpatriotismus und der Verehrung der russischen Armee. Der Sieg gegen den Faschismus im "Großen Vaterländischen Krieg" spielt in diesem Narrativ eine zentrale Rolle. Seine Bedeutung als wichtigster identitätsstiftender Erinnerungsort hat nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland noch zugenommen. Deshalb kann Putin heute mit einem vermeintlichen Kampf gegen "ukrainische Neonazis" große Teile der russischen Bevölkerung mobilisieren.
Dass es um mehr gehen könnte als den Krieg in der Ukraine, nämlich um eine Restauration der gesamten ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre, ließ sich erahnen, als die Menge im Stadion beim Lied des Schlagersängers Oleg Gazmanov "Geboren in der UdSSR" begeistert mitsingt: "Ukraine, Krim, Belarus, Moldova – das ist mein Land (…), und das Baltikum auch". Manche Experten glauben, dass Russland nach der Ukraine Ansprüche auf Moldova, das Baltikum und Polen erheben könnte.
Anti-europäische und anti-westliche Stimmungen spielen unter Putins Anhängern seit Jahren eine wachsende Rolle und werden manchmal historisch legitimiert. Der Oscar-prämierte Schauspieler und Regisseur Vladimir Maschkov zitierte im Stadion den radikalen russischen Slavophilen Fedor Tjuttschew, der vor 155 Jahren seine russischen Landsleute davor warnte, die Anerkennung der Europäer zu suchen, in deren Augen sie angeblich "immer Sklaven bleiben" würden.
Putin selbst hat ein ambivalentes Verhältnis zum Westen, das zeitweilig von gewisser Faszination, später vor allem von Ablehnung geprägt war. Er äußerte sich zunehmend abwertend über den Westen, den er als degeneriert, schwach und dekadent bezeichnete. In seiner Kriegserklärung vom 24. Februar heißt es sinngemäß, der Westen versuche Russlands traditionelle Werte zu zerstören und ihm seine Werte aufzudrängen. Diese würden das russische Volk, von innen zerfressen, auf direktem Weg zu Verfall und "Entartung" führen und müsse verhindert werden. In Putins Denken verbinden sich empfundene Demütigungen und Kränkungen durch den Westen mit antiwestlichen und antiliberalen Ideen, wie sie zum Beispiel der Philosoph und Politiker Dugin, ein Vordenker der extremen Rechten, seit den 1990er Jahren vertritt.
Obwohl es in Russland verboten ist, offen über den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu sprechen, der als "militärische Sonderoperation" bezeichnet werden muss, war der Krieg im Luschniki-Stadion allgegenwärtig. Putin sprach von heldenhaften russischen Soldaten, die in christlicher Nächstenliebe Seite an Seite in der Ukraine kämpfen, und nutzte religiöse Sinnstiftungen, um in der Bevölkerung die Opferbereitschaft zu mobilisieren. Dazu erklangen patriotische Kriegsballaden, wie "Komm Bruder, bis zum Ende…" und Sprechchöre aus dem Publikum stimmten ein: "Vorwärts Russland! – Wir werden siegen!".
Dennoch gibt es Funken der Hoffnung, die auf beginnende Risse in Putins Imperium verweisen: So bestand das Publikum nicht nur aus Freiwilligen, sondern war zum Teil unter Zwang mit Bussen ins Stadion gebracht worden, darunter viele staatliche Lehrkräfte und Schüler. Auch technische Störungen, die zur plötzlichen Unterbrechung von Putins Rede führten, zeigten, dass nicht alles im Sinne der Organisatoren lief.
Die Sanktionen schüren zudem Hoffnungen auf wachsende soziale Proteste, die Putins Herrschaft in den letzten Jahren, z.B. nach der Erhöhung des Rentenalters 2018, schon mehrfach gefährlich wurden. Widerstand könnte schließlich auch aus den nationalen Republiken der Russländischen Föderation mit nicht-russischer Bevölkerungsmehrheit kommen, darunter das ressourcen- und bevölkerungsreiche Tatarstan. Deshalb adressiert Putin in seinen Ansprachen bewusst das gesamte "multiethnische Russländische Volk". Die Führungsrolle der ethnischen Russen, die schon Stalin hervorhob, scheint dabei auch für Putin außer Frage zu stehen. Der Widerstand aus den Republiken gegen die Gleichschaltungsbestrebungen aus Moskau könnte künftig wieder zunehmen.
Zur Person: Tanja Penter ist seit 2013 Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.