Von Klaus Welzel
Das ist die Geschichte des Draea Salm. Eine traurige Geschichte. Eine Geschichte von Flucht und Vertreibung. Eine Geschichte, die bis heute ihres Happy Ends harrt - obwohl die Hauptperson gefestigt wirkt. Gefestigt im Vergleich zu vor einem Jahr.
Ohne die Neckarsteinacherin Christine Diener hätten wir vermutlich nie vom Schicksal des Draea Salm erfahren. Er wäre ein namenloser Flüchtling geblieben, der im Frühjahr 2015 nach Deutschland kam. Einer von gut 850.000 im vergangenen Jahr. Einer von 31.379 Irakern, die 2015 einen Asylantrag stellten.
Christine Diener arbeitete Jahrzehnte als Lehrerin, sie war Rektorin einer Grundschule. Das Lehren, das Sich-um-andere-Kümmern liegt ihr. Und wenn sie heute mit Draea unterwegs ist, dann ist sie ihm Dolmetscherin, Mutmacherin und verständnisvolle Begleiterin in einer Person. Kennengelernt hatte sie Draea in der Neckarsteinacher Asylunterkunft. Der gehemmte, scheue Junge fiel ihr auf. Welchen Grund sein ängstliches Verhalten hatte, erfuhr sie aber erst nach und nach.
Draea Salm stammt aus der nordirakischen Stadt Sindschar. Eine Kleinstadt, von der die Welt zum ersten Mal hörte, als die Terrororganisation Al Kaida dort im April 2007 mit einem Sprengstoffanschlag 796 Menschen in den Tod schickte - über 1500 weitere wurden verletzt. Das war der schlimmste Terrorangriff seit 9/11, wie die Amerikaner den Angriff auf die Twin Towers in New York nennen. 2007 war Draea 14 Jahre alt. Und er gehörte der jesidischen Minderheit im Irak an, die zwar nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Doch von diesem einen Prozent leben sehr viele in Sindschar und Umgebung. Jesiden sind Christen und für Islamisten Feinde des Islam.
In der Antike war Sindschar ein bekannter Ort. Heftig umkämpft. Die Römer stationierten Garnisonen. Und Kaiser Konstantin erlitt wegen der Disziplinlosigkeit seiner Soldaten 344 eine schwere Niederlage in Sindschar. Im siebten Jahrhundert gab es vermutlich eine große christliche Gemeinde. Jetzt gibt es die christlichen Jesiden. Und es gibt noch mehr Kurden, die Sindschar dem Islamischen Staat wieder abgenommen haben. Zwei Jahre lang wurde heftig gekämpft. Das waren die zwei Jahre, in denen Draea Salm zuerst nach Bagdad zog und dann - nachdem er von den Häschern des IS festgenommen und gefoltert worden war - nach Deutschland lief. Zu Fuß.
Wir haben im vergangenen Jahr ausführlich über Draeas Flucht geschrieben. Wir haben seinen Leidensweg geschildert. Wir haben von ihm gehört, dass er nie mehr nach Hause will. Dass es sein sehnlichster Wunsch ist, dass seine Mutter endlich kommt. Das alles wurde übersetzt von einem kurdischen Dolmetscher. Mittlerweile spricht Drae deutsch. Nicht sehr gut. Aber er versteht viel. Und er lernt täglich dazu.
Über seine seelischen Verletzungen kann er immer noch nicht sprechen. Aber er sagt, dass seine Albträume weniger werden. Wurde er allein im September 2015 fünfmal in ein Psychiatrisches Krankenhaus überwiesen, so hat sich das seither nur dreimal wiederholt. Es geht ihm sichtbar besser. Er lacht viel. Wenn er sich nicht so ausdrücken kann, dass er sich wirklich verstanden fühlt, tippt er in sein sehr desolates Smartphone und sucht nach Übersetzungshilfen.
Folterer hinterließen Narben
Dass die "Soldaten" des IS ihm mit einem Gewehrkolben fast den Kopf zertrümmert haben, löst bei ihm heute noch schwere Kopfschmerzen aus. Seine Handgelenke sind stark vernarbt. Auch das waren die IS-Häscher. Wie sie das gemacht haben? Draeas Gedächtnis streikt. Und das ist der Punkt, wo ihm die fürsorgliche Christine Diener nicht mehr helfen kann. Draea bräuchte eine Therapie, einen Sprachkurs, einen Integrationskurs. Aber den bekommt er nicht.
Nicht aus Boshaftigkeit, wie sie im Landratsamt Heppenheim versichern. Sondern schlicht, weil die Nachfrage so groß ist. "Uns fehlen Räume, uns fehlt Personal, uns fehlt Geld", sagt der Sachbearbeiter. So kommt es, dass von knapp 40 Flüchtlingen, die Christine Diener seit 2011 betreute, bisher nur zwei einen Integrationskurs belegen konnten. Die nächsten beiden sind Anfang des Jahres 2017 an der Reihe. Eigentlich stellt man sich Integration anders vor. Doch Diener, die den Arbeitskreis "Hilfe für Flüchtlinge" koordinierte, musste lernen, dass das Unzulängliche das Normale ist.
Rein äußerlich ist Draea, der auf der Flucht Gras aß, der fauliges Wasser trank, der von den nächtelangen Wanderungen einen Hüftschaden davontrug - rein äußerlich ist Draea ein gesunder Mensch. Selbstbewusst. Er, dessen Verlobte im Irak von IS-Schergen ermordet worden war, hat wieder eine junge Frau gefunden, die er heiraten möchte. Sie ist 18. Ein Onkel in Hannover vermittelte auf einer Feier die Braut, die in Plochingen lebt. Eine Jesidin. Zwei- bis dreimal im Monate kann Draea seine Zukünftige sehen. Sobald seine deutschen Papiere "in Ordnung" sind, will er heiraten. In Ordnung bedeutet: Draeas Asylantrag wurde bearbeitet und positiv entschieden.
Allein unter 70 Anderen
So lange verbringt Draea die Zeit unter Landsleuten. Soweit ihm dies möglich ist. Denn Draea lebt zwar in Deutschland, aber richtig angekommen ist er nicht. Im hessischen Lampertheim wohnt er in einer Asylunterkunft unter 70 Moslems. Außer zu Christine Diener hat er fast keine Kontakte zu Deutschen. Er arbeitet für einen türkischen Kurden, der ein Döner-Restaurant in Bensheim betreibt. Handlangerdienste in der Küche. Elf Stunden die Woche gewährt ihm das Landratsamt, damit bei der Bezahlung auch der Mindestlohn von 8,50 Euro eingehalten wird. Würde Draea mehr verdienen, dürfte er auch mehr arbeiten. Den Chef findet er "prima". Kurden und Jesiden sind das Zusammenleben gewohnt. Politisch passt die Konstellation auch.
Obwohl Draea ein großes Problem mit Moslems hat. Vor ihnen ist er geflohen. Zumindest vor dem gewalttätigen IS. Er leidet und er hasst. Nach Deutschland kam er "wegen der christlichen Kanzlerin Merkel". Die Fotos, die im Spätsommer 2015 um die Welt gingen, zeigten für Draea und sein Umfeld eben in erster Linie eine christliche Politikerin. Jetzt ist er hier - alleine unter 70 Anderen. Jede freie Minute verbringt er deshalb bei einer jesidischen Familie in Lampertheim.
Größtes Ziel: Eigene Wohnung
Der Polizei vertraut er, weil er alle Beamten für Christen hält. Merkels helfende Arme. Und mit dieser Haltung steht er unter den Geflüchteten nicht alleine da. Draea will mehr arbeiten, später einmal eine Familie gründen, er will ein normales Leben leben. Zunächst einmal will er aber alleine wohnen. Er ist - das bestätigte Christine Diener - extrem schmutzempfindlich. In der Asylunterkunft putzt er ständig. Er ekelt sich. Vielleicht hat das etwas mit seiner Flucht zu tun, mit der Folter in dem kahlen Zimmer in einem irakischen Haus. Vielleicht ist das auch eine ganz andere Form der Verarbeitung.
Als er 2015 in Deutschland ankam, rauchte er zwei Schachteln Zigaretten am Tag, heute sind es noch zwei bis drei Stück. Fortschritte. Christine Diener weiß nicht, wie lange Draea noch auf seinen Asylbescheid warten muss. Der Mann vom Landratsamt weiß das auch nicht. Es dauert halt, wobei das Bundesamt für Migration und Flucht deutlich schneller arbeitet als im Jahr 2015.
Draea wird irgendwie seinen Weg in Deutschland gehen. Wichtig ist ihm sein Nahziel, die eigene Wohnung. In Neckarsteinach, wo Christine Diener sich immer noch um Flüchtlinge kümmert, gibt es das. Aber da gibt es auch bessere Jobs. In einem Restaurant, wie in Bensheim. Aber Vollzeit. Als Draea im Sommer 2015 im Neckarsteinacher Bahnhof lebte, durfte er noch nicht arbeiten. Die ersten drei Monate sind Asylbewerbern auf dem Arbeitsmarkt verwehrt. Jetzt hat die Stelle ein anderer. Alle paar Wochen schaut Draea vorbei. Christine Diener geht dann mit ihm spazieren. Doch sie sagt: "Die eigentlichen Schritte muss er alleine gehen." Hin zur Integration.
Zwischen Lampertheim und Sindschar liegen 4000 Kilometer, liegen zwei Jahre und eine Geschichte. Eine Geschichte von Flucht - und von Ankunft.