Justin Sullivan

Softe Songs vom Sofa vom New Model Army-Frontmann

Mit "Surrounded" liefert Sullivan eine Sammlung von 16 eigenen akustischen Songs ab. Ein Gespräch über die Folgen des Brexits und seine Faszination für Kälte und Eis.

20.05.2021 UPDATE: 27.05.2021 06:00 Uhr 3 Minuten, 44 Sekunden
Justin Sullivan. Foto: dpa

Von Olaf Neumann

18 Jahre nach seinem Solodebüt "Navigating By The Stars" bringt Justin Sullivan mit "Surrounded" eine Sammlung von 16 eigenen akustischen Songs heraus, die er in den ersten Wochen des Lockdowns geschrieben hat. Die hypnotische Platte erweist sich als wirksames Mittel gegen den Corona-Blues. Mit Justin Sullivan, 65, sprach Olaf Neumann via Zoom über die Folgen des Brexits und seine Faszination für Kälte und Eis.

Mr. Sullivan, haben Sie das komplette Album aufgrund der besonderen Umstände in den eigenen vier Wänden eingespielt?

Ja. Ich befinde mich gerade in meiner kleinen Wohnung in Bradford. Fast alle Gitarren- und Gesangsspuren sind nebenan im Wohnzimmer aufgenommen worden, wo es ein bisschen ruhiger ist als hier. Der Rest in Paris, wo ich zeitweise lebe. Am Ende habe ich mit Lee lediglich ein paar Gesänge neu aufgenommen. Wir besitzen in Bradford auch ein Studio, aber diesmal wollte ich es lieber zu Hause machen.

Ist die Pandemie der richtige Zeitpunkt, um sich auf Solosachen zu konzentrieren?

Ja, weil ich in letzter Zeit viel auf dem Sofa saß und mit der Gitarre Singer-Songwriter-Stoff geschrieben habe, der halt nicht den Schwung und die Schlagkraft von New Model Army besitzt. Man hat für mich eine Solotour geplant, aber die steht immer mehr infrage. Wenn es klappt, spiele ich, wenn nicht, dann eben ein andermal. Ab und zu trete ich gern alleine auf. Es ist sehr anders als mit New Model Army.

Wird das Touren auf dem Festland aufgrund des Brexits für britische Künstler viel teuer werden?

Ja, teurer, schwieriger und lästiger. Aaah! Der Übergang Dover-Calais erinnert mich jetzt an Berlin vor dem Mauerfall. Ich hasse diese dämliche Grenze! Wir wissen immer noch nicht, welche Regeln zukünftig für tourende Bands gelten. Vielleicht brauchen wir bald Arbeitserlaubnisse für jedes einzelne europäische Land. Das könnte bedeuten, dass es sich nicht mehr lohnt, für eine einzelne Show zum Beispiel nach Amsterdam zu fahren. Es wird auf jeden Fall komplizierter werden.

Künstler verdienen den Großteil ihres Geldes mit Tourneen, was im Moment nicht geht. Sind Sie in diesen Zeiten darauf angewiesen, neue Platten zu machen?

Mit Platten kannst du nichts mehr verdienen. Ich tue dies, weil ich es liebe. Wir sind froh, dass wir mit New Model Army in den letzten zehn Jahren so viel spielen durften. Wir können ein Jahr ohne Konzerte überbrücken, aber viele andere Musiker haben keine Ersparnisse. Letzten Oktober spielten wir eine einzige Online-Show anlässlich unseres 40. Jubiläums. Es fühlte sich an wie eine Probe. Aber wir waren ziemlich nervös, weil uns bis zu 20.000 User zugeschaut haben. Im Chatroom konnten sich Fans aus Texas mit Leuten aus Polen unterhalten.

Ist der Song "Clear Skies” Ihr Versuch, die Coronakrise künstlerisch zu erfassen?

Der Song basiert auf einer merkwürdigen Erfahrung aus dem letzten Februar in der Türkei. Wir sollten mit New Model Army in Ankara, Izmir und Istanbul auftreten. In Izmir auf dem Dach eines hohen Gebäudes. In der Nacht zuvor wurden etliche türkische Soldaten von der syrischen oder russischen Armee getötet und es war unklar, ob unser Gig stattfinden kann. Wir saßen dann den ganzen Tag auf diesem Dach und fragten uns, ob wir am Abend spielen dürfen. Am Ende fiel der Gig aus. Wir sprachen auch über Corona, den Lockdown in China, den Brexit und nationalistische Regime wie das in der Türkei.

Auch der Norweger Roald Amundsen hat Sie zu einem Song inspiriert. Er erreichte als erster Entdecker den Südpol und schlug damit seinen britischen Rivalen Robert Falcon Scott. Ist Amundsen für Sie ein Held?

Ich habe viel über die Ära der großen Entdecker gelesen: Shackleton, Scott, Amundson, Byrd. Der Wettlauf zwischen Amundson und Scott ist ziemlich interessant. Über Scott habe ich in der Schule gelernt, er sei ein bedeutsamer vornehmer Mann gewesen, der bei der Entdeckung des Südpols von Amundson geschlagen worden ist, weil dieser betrogen habe. Erstens hat der Norweger aber gar nicht gesagt, dass er zum Pol gehen will. Zweitens hatte er eine vernünftige Ausrüstung und wusste, wie man in der Antarktis überlebt. Er war ein Profi. Aber das Britische Empire hat all das unbeachtet gelassen und Scotts tragische Geschichte zu einer ehrenvollen Aufopferung stilisiert.

Was fasziniert Sie an Schnee, Kälte und Eis?

Den Song "Surrounded" habe ich in Norwegen geschrieben, wo wir unser letztes Bandalbum aufgenommen haben. Der erste Vers handelt von dieser Erfahrung, der zweite von meinem Großvater. Ich habe ihn leider nie persönlich kennengelernt. Er wurde in Kanada geboren, arbeitete als Ingenieur für die Eisenbahngesellschaft und verbrachte viel Zeit in den kältesten Regionen des Landes. Mein Großvater schrieb auch Kurzgeschichten, die bei den kanadischen Inuit spielten. Er liebte die Märchen und Mythen dieser weit offenen, rauen Landschaft. Vielleicht habe ich das von ihm geerbt.

Sie haben dem Jahr 1975 ein Lied gewidmet. Damals waren Sie zarte 19. Eine prägende Zeit für Sie?

Das Album ist viel autobiografischer als andere. Wenn du Zeit hast, auf dem Sofa herumzusitzen, fängst du unweigerlich an, über dein bisheriges Leben nachzudenken. Mit 18 habe ich für die U-Bahn in London gearbeitet, um mir Reisegeld zu verdienen. Ich bin dann monatelang durch Nordamerika und Mexiko getrampt. Ein merkwürdiges Abenteuer. 1975 hatten die USA gerade das Desaster des Vietnamkrieges hinter sich, auch die Morde an den Kennedys und die Demos der Bürgerrechtler hatten das Land erschöpft. Die Musik und die Filme aus dieser Zeit wirken sonderbar gebleicht.

Auf dem Album arbeiten Sie mit jungen klassischen Komponisten wie Tobias Unterberg, Henning Nugel und Shir-Ran Yinon zusammen. Empfinden Sie klassische Musik als etwas, das zu Ihnen gehört?

Durchaus. Die Violinistin und Komponistin Shir-Ran Yinon aus Leipzig ist die Tochter eines Dirigenten. In den letzten Jahren ist sie häufig mit New Model Army aufgetreten. Sie hätte auch das symphonische Konzert, das wir letztes Jahr in Berlin spielen wollten, arrangieren sollen. Wir haben es jetzt für 2022 terminiert.


Info: "Surrounded" von Justin Sullivan erscheint am 28. Mai.

Ein Live-Konzert in Deutschland ist für den 17. September 2021 in Frankfurt in der Batschkapp geplant.