Vor 125 Jahren

Als die erste Fußgängerin von einem Auto überfahren wurde

Bridget Driscoll starb noch am Unfallort. Der Fahrer (ohne Führerschein) wurde verwarnt und freigesprochen.

11.08.2021 UPDATE: 15.08.2021 06:00 Uhr 3 Minuten, 35 Sekunden
Bridget Driscoll wurde in London von einem „neumodischen“ Roger-Benz angefahren und starb. Archiv-Fotos: Modgamers/ Bibliothèque nationale de France

Von Michael Ossenkopp

London. Der Tod von Bridget Driscoll gilt als der erste aktenkundige Unfall eines Menschen mit einem Auto. Am 17. August 1896 wurde die 44-Jährige in London von einem Fahrzeug erfasst und stürzte. Dabei zog sich die Fußgängerin eine schwere Kopfverletzung zu und starb kurz darauf am Unglücksort.

Driscoll hatte in Begleitung ihrer Tochter May ein katholisches Kreuzbundfest besucht. An der Dolphin Terrace nahe dem Crystal Palace wollten die Frauen die Straße überqueren, als Driscoll von einem anfahrenden Auto der anglo-französischen Kfz-Gesellschaft Roger-Benz zu Boden gestoßen wurde. Obwohl das Spitzentempo des Fahrzeugs bei 8 Meilen pro Stunde (13 km/h) lag, war es lediglich mit etwa 4 Meilen (6,4 km/h) unterwegs. Augenzeugen beschrieben die Geschwindigkeit des Wagens dennoch als "rücksichtsloses Tempo, fast wie ein galoppierendes Pferd oder ein Feuerwehrwagen".

Bridget Driscoll (weißer Umrandung) wurde in London von einem „neumodischen“ Roger-Benz angefahren und starb. Archiv-Fotos: Modgamers/ Bibliothèque nationale de France

Der Fabrikant Émile Roger hatte 1887 ein Auto von Benz gekauft und vermarktete die auf dieser Grundlage von ihm produzierten Fahrzeuge bald darauf in Frankreich unter dem Namen Roger-Benz. Um die "pferdefreie Fortbewegung" auch in England bekannter zu machen, befand sich der Roger-Benz auf einer Promotour durch London.

Hinter dem Crystal Palace wurde eine Technikschau veranstaltet, auf der auch Probefahrten möglich waren. Der Unfallwagen wurde von Arthur James Edsall gelenkt, er war einer von drei Autofahrern, die den Besuchern kurze Spritztouren anboten. Auf dem Beifahrersitz saß Alice Standing. Sie behauptete später, Edsall hätte den Motor frisiert. Dies wurde von Fachleuten aber widerlegt. Die Höchstgeschwindigkeit sei absichtlich begrenzt worden, wegen des verwendeten Niedergeschwindigkeits-Motorriemens und dem Einzylindermotor hätte das Auto nicht schneller als 4,5 Meilen pro Stunde (7,2 km/h) fahren können.

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Um die Wende zum 20. Jahrhundert war London die größte und eine der lautesten Metropolen der Welt. Kutschenräder und Pferdehufe sorgten auf dem holprigen Straßenpflaster für ein ständiges Krachen und Rasseln. An zahlreichen Straßenecken türmten sich Pferdekadaver, Abfall und Kot. Die Straßen waren verstopft, in den engen Gassen starben durch Unfälle mit Fuhrwerken wöchentlich bis zu zwölf Personen, die Zahl der Verletzten lag noch weitaus höher.

In dem Verfahren zur Untersuchung von Driscolls Unfall sagte ihre Tochter May, der Fahrer habe "nicht verstanden, was er tat" und sei in einem Zickzackkurs gefahren. "Obwohl es genügend Platz für das Auto gab, um vorbeizukommen, fuhr es direkt auf uns zu", berichtete die 16-Jährige. Ihre Mutter hätte noch "Hilfe" rufen können, bevor sie vom rechten Kotflügel getroffen wurde und stürzte.

Die Hausangestellte Florence Ashmore sagte, dass das Auto in einem "enormen Tempo" gefahren sei. Vermutlich war sich Driscoll als einfache Arbeiterfrau über die Gefährlichkeit der neuen Motorgefährte nicht bewusst. In ganz England gab es kaum zwei Dutzend Benzinkutschen. Als sie die Maschine auf sich zurollen sah, reagierte sie verwirrt und blieb wie angewurzelt stehen. Sie hielt ihren Regenschirm hoch, vielleicht um dem Auto zu signalisieren, dass es anhalten solle. Edsall verteidigte sich, er habe die Gruppe der Frauen durch Läuten der Alarmglocke gewarnt und zusätzlich laut "stand back!" ("Zurücktreten") gerufen. Der Warnruf wurde von seiner Beifahrerin bestätigt.

Nach sechsstündiger Verhandlung kam das Gericht zu dem Ergebnis, der Tod sei durch die Verkettung unglücklicher Umstände eingetreten, Edsall wurde lediglich verwarnt und freigesprochen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er erst drei Wochen gefahren und hatte – ohne Führerscheinpflicht – keine Einweisung erhalten, auf welcher Straßenseite er sich halten sollte. Richter Percy Morrison äußerte die Hoffnung, dass sich ein solch tragisches Ereignis niemals wiederholen möge.

wie falsch er damit lag. Inzwischen sterben weltweit jährlich etwa 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Das sind Tag für Tag rund 3700 Tote. Um die Sicherheit gerade für Fußgänger zu erhöhen, bieten mittlerweile fast alle Autohersteller neben sogenannten Fahrerassistenzsystemen wie Spurhalte-, Park-, Abbiege- und Berganfahrassistent auch vorausschauende Fußgängerschutzsysteme. Ab 2022 wird eine automatische Notbremsung für neue Fahrzeugtypen in Europa verbindlich vorgeschrieben.

Sascha Weber, bei Audi zuständig für die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen, erklärt: "Pre Sense City ist ein kamerabasiertes Warn- und Notbremssystem. Das System ist in der Lage, Unfälle mit Fahrzeugen und Fußgängern zu vermeiden und dabei bis zu 40 km/h Geschwindigkeit zu reduzieren. Gibt es eine kritische Situation, erfolgt als Allererstes für den Fahrer eine optisch-akustische Warnung mit dem Ziel, dass er die Situation selbst deeskaliert. Im zweiten Schritt erfolgt ein Warnruf. Wenn der Fahrer hier auch nicht übernimmt, erfolgt im letzten Schritt die vollautomatische Bremsung."

2020 sind in Deutschland 2719 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Das waren laut Statistischem Bundesamt 10,7 Prozent weniger als im Vorjahr. "Hauptgrund für das Minus dürften der coronabedingte Rückgang von Pendlerfahrten, die vielen ausgefallenen Urlaubsfahrten und damit das insgesamt geringere Verkehrsaufkommen sein", vermutet der ADAC. 376 der Getöteten waren Fußgänger.

Damit sank die Zahl der Verkehrstoten auf den tiefsten Stand seit mehr als 60 Jahren. Der negative Allzeit-Rekord stammt aus dem Jahr 1970, damals wurden auf bundesdeutschen Straßen 21.322 Personen getötet. Durch die Einführung der Anschnallpflicht und von Höchsttempo 100 auf Landstraßen sowie einer Alkoholgrenze von 0,5 Promille sanken die Zahlen trotz erhöhten Verkehrsaufkommens kontinuierlich. Außerdem haben eine gesteigerte passive Sicherheit durch Knautschzonen und verbesserte Materialien zu dem Rückgang beigetragen.

Während bei uns die Zahlen sinken, ist die Lage in den ärmsten Ländern immer noch dramatisch. In Afrika sterben rund dreimal so viele Einwohner durch Verkehrsunfälle wie in Europa. "Das ist ein inakzeptabler Preis, den wir für die Mobilität zahlen", erklärt WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Schon vor 125 Jahren gab es hitzige Diskussionen um das Für und Wider der neuen Motorkutschen. Königin Viktoria sah in Automobilen ein "sehr unruhiges und ganz und gar unangenehmes Beförderungsmittel". Die "Times" stellte fest, dass überdurchschnittlich viele Autofahrer "alles andere als Gentlemen" seien. Noch weiter ging der Duke of Beaufort, als er wetterte: "Erschießen, alle Autofahrer erschießen!"