Die Sittenwächter waren außer sich, die Kirchen riefen zum Boykott auf. In manchen Kinos flogen gar Stinkbomben. Aber „Die Sünderin“ hatte auch Folgen für die Hauptdarstellerin: Hildegard Knef galt für viele als verrucht und hatte Schwierigkeiten, Rollen zu finden. Foto: dpa
Von Michael Ossenkopp
Koblenz. Die Nation war erschüttert, wochenlang gab es in den Medien kaum noch ein anderes Thema als "Die Sünderin". Dabei war nicht der kurz aufblitzende blanke Busen der Knef Auslöser von Proteststürmen. "Die Annahme, dass die Kirchen gegen die wenige Sekunden lang zu sehenden Brüste der Schauspielerin zu Felde gezogen seien, ist zwar aus dem heutigen Mythos ‚Sünderin‘ nicht wegzudenken, entbehrt aber jeder Grundlage", erklärt Jürgen Kniep in seinem Buch "Keine Jugendfreigabe! Filmzensur in Westdeutschland 1949 - 1990". Vielmehr schlugen die Empörungswellen so hoch, weil der Film aus damaliger Sicht gleich mehrere Tabus thematisierte: Prostitution, Tötung auf Verlangen und Suizid.
Um "ein gesundes, deutsches Ehrgefühl" zu verteidigen, verteilten Sittenwächter vor den Lichtspielhäusern Flugblätter; Geistliche warfen in Kinos mit Stinkbomben und streuten Niespulver. Nicht nur der katholische Filmdienst rief zum Boykott auf. "Die Sünderin" sei ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau. "Sollten Hurerei und Selbstmord die Ideale eines Volkes sein?", fragten aufgebrachte Moralprediger. Der Kölner Erzbischof Kardinal Josef Frings geißelte das Leinwanddrama als "Zersetzung sittlicher Begriffe" und forderte: "Ich erwarte, dass (…) unsere gesunde katholische Jugend in Empörung und in christlicher Einmütigkeit die Lichtspieltheater meidet."
Zu lasziv für die Fünfziger Jahre? Maler Alexander (Gustav Fröhlich) bildet Marina (Hildegard Knef) ab. Foto: dpaDie Handlung des "Skandalfilms" war aus heutiger Sicht eher banal: Die Ex-Prostituierte Marina (Hildegard Knef) verliebt sich in den schwerkranken Maler Alexander (Gustav Fröhlich). Um Geld für eine rettende Behandlung aufzutreiben, geht sie wieder ihrer alten Beschäftigung nach. Als die Operation keine Heilung bringt, leistet sie Sterbehilfe und begeht anschließend Selbstmord.
Der Film befeuerte die öffentliche Diskussion über Kunst, Moral und die Rolle der Kirche in der biederen Nachkriegszeit. Themen wie Promiskuität, Prostitution, wilde Ehe und Sterbehilfe provozierten ebenso Proteste wie Zustimmung. In Regensburg etwa drängte ein Polizeiaufgebot mit Stahlhelmen und Gewehren die Zuschauer aus dem Kino, nachdem der CSU-Oberbürgermeister ein Verbot erlassen hatte. Schaukästen wurden eingeschlagen, die Demonstrationen dauerten drei Tage. "Unter den 1000 Teilnehmern haben nur etwa 400 ein Filmverbot gefordert. Die Mehrheit war erschienen, um für die Freiheit der Kunst zu demonstrieren", sagt der Historiker Christian Kuchler.
Marina braucht Geld für die Behandlung ihres Geliebten und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Foto: dpaAuch in Koblenz und Lingen wurde die Aufführung polizeilich untersagt, in Düsseldorf, Köln und Oberhausen bildeten sich gegen den Film Aktionskomitees. Doch die moralisierende Kritik verkehrte sich ins Gegenteil und machte unfreiwillig Werbung für das überwiegend als künstlerisch belanglos bewertete "Schandwerk". Das Lexikon des internationalen Films resümierte: "Proteste kirchlicher und politischer Kreise machten ‚Die Sünderin‘ zum Kassenerfolg."
Hauptdarstellerin Hildegard Knef gehörte in den 1950er Jahren neben Marlene Dietrich und Romy Schneider zu den wenigen deutschen Schauspielerinnen, die auch international Erfolg hatten. Wegen ihrer Nacktszene galt sie fortan als "verrucht", als "Sünderin" war sie aber kein Vamp, sie spielte die Rolle leicht unterkühlt und berechnend. Darüber hinaus schrieb sie Bücher ("Der geschenkte Gaul", "Das Urteil") und trat als Chanson-Sängerin auf. Songs wie "Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin" und "Für mich soll’s rote Rosen regnen" wurden zu Evergreens.
Die Knef sagte einmal rückblickend: "Obwohl das Ganze ein ziemliches Melodrama war, hat man das so ein bisschen verheimlicht und hat das dann also auf diese Nacktszene gedrückt, was recht albern war. Und die Einzige, die eigentlich wirklich darunter zu leiden hatte, war ich. Und die Produzenten verdienten sich dumm und doof."
In ihrem Buch "Der geschenkte Gaul" schrieb sie über diese Zeit: "Als ich (...) München verließ, war aus dem Erfolg Verfolgung geworden, hatte ich Namen verloren, war er mit ‚Sünderin‘ ersetzt, waren Drohbriefe, Morddrohungen, im Detail aufgeführte Anliegen zahlloser Sexualverrückter tägliche Lektüre. Von Kanzeln angegriffen und von Pfarrern zerpflückt, von Tränengas und Stinkbomben verfolgt, von Protestkundgebungen und Umzügen begleitet, war der Film dennoch oder deswegen in seinen ersten drei Wochen von zwei Millionen Deutschen gesehen worden." Bevor der Film im Sommer 1951 wieder aus den Kinos verschwand, hatte er vier Millionen Zuschauer angelockt.
Lediglich drei Tage vor der Veröffentlichung am 15. Januar verweigerte die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) dem Herzog-Filmverleih die Freigabe des Streifens. Sie kritisierte den Rückfall der jungen Hauptdarstellerin in die Prostitution als selbstverständlichen Ausweg aus ihrer Notlage. Der folgende Selbstmord und die Tötung auf Verlangen könnten zur Nachahmung anreizen. Nach Protesten von Regisseur Willi Forst und Produzent Rolf Meyer kippte die FSK jedoch ihr Urteil und gab das Werk frei. Schon am Tag darauf zogen die katholische und die evangelische Kirche ihre Vertreter aus dem Gremium ab und verweigerten jede weitere Mitarbeit.
Obwohl dieser Rückzug bereits kurz darauf wieder aufgegeben wurde, beschäftigte der Film weiterhin die Justiz. Der Verleih klagte gegen Aufführungsverbote, der Fall landete vor dem Bundesverwaltungsgericht. Nach mehr als drei Jahren folgte am 21. Dezember 1954 die Entscheidung: "Die Freiheit der Kunst wird ohne Einschränkungen gewährleistet." Damit gilt auch "Die Sünderin" als Kunstwerk und wird durch Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt.
Die ehemalige FSK-Geschäftsführerin Christiane von Wahlers gibt zu bedenken: "Was wäre wohl gewesen, wenn die Kirchen mit ihrem Verdikt gewonnen hätten und ‚Die Sünderin‘ von der Leinwand verbannt geblieben wäre?" Sie glaubt: "Von der klärenden Debatte über die Freiheit der Kunst im Kino profitieren wir zum Glück bis heute."