Edith Piaf - "La vie en rose"

Nein, sie bereute nichts!

Edith Piafs Chansons und ihre Biografie sind ein Beispiel dafür, dass man auch in tiefsten Krisen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verlieren darf.

06.11.2020 UPDATE: 07.11.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 45 Sekunden
Die Chansonsängerin Edith Piaf bei einem Auftr itt im Jahr 1949. Foto: dpa

Von Sabine Göttel und Olaf Neumann

Dass sie in einem Bordell in der französischen Provinz aufwuchs, hat ihr vermutlich das Leben gerettet. Edith Piaf, eigentlich Édith Giovanna Gassion, kommt im Pariser Arbeiterviertel Belleville in äußerst ärmlichen Verhältnissen zur Welt. Ihre Mutter verdingt sich als Straßensängerin; ihr Vater, Akrobat in einem Wanderzirkus, kommt 1917 aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Zu diesem Zeitpunkt lebt die kleine Edith schon bei ihrer Großmutter. Vater Alphonse bringt das vernachlässigte, abgemagerte Kind zu seiner eigenen Mutter, die im normannischen Bernay ein Bordell betreibt. Dort kümmern sich die Prostituierten rührend um das zarte Mädchen. Edith blüht auf und überwindet sogar eine Augenkrankheit, an der sie zeitweise erblindet war.

Als Edith sieben Jahre alt ist, holt sie der Vater wieder zu sich. Sie tingelt mit seinem Wanderzirkus durch Paris, zeigt aber keinerlei akrobatisches Talent. Dafür erregt sie mit ihrer kraftvollen Stimme die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Ein weiterer Anlass für den alkoholkranken Gassion, seine Tochter zu schlagen und zu schmähen: "Dieses Gör hat alles in der Kehle, aber nichts in den Pfoten." Als Edith 14 Jahre alt ist, nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand: Sie trennt sich von ihrem Vater, um sich wie ihre Mutter als Straßensängerin alleine durchzuschlagen. Und sie lernt die Sängerin Simone Berteaut kennen. Die beiden geben sich als Schwestern aus, hoffen, als Duo ein paar Francs mehr zu verdienen. Eine lebenslange Freundschaft beginnt.

1933 – im Alter von 17 Jahren – wird Edith Mutter einer kleinen Tochter, die nach eineinhalb Jahren an einer Hirnhautentzündung stirbt. Sie sei für 10 Francs mit einem Freier aufs Zimmer gegangen, um das Begräbnis der kleinen Marcelle bezahlen zu können, schreibt sie später in ihrer Autobiografie "Mein Leben". 1935 erkennt Louis Leplée, Besitzer des Nachtclubs Le Gerny, das Talent der nur 1,47 Meter großen Edith Gassion und lädt sie zum Vorsingen ein. Er nennt sie "la môme piaf" (etwa: die spatzenkleine Göre) – und fortan tritt Edith als der "Spatz von Paris" in seinem Cabaret auf.

Edith Piaf kommt an beim Pariser Publikum. Sie wird zu Gastspielen nach Brest und Nizza eingeladen und lernt Menschen aus der Unterhaltungsbranche kennen, die für sie Chansons texten und komponieren, sich um ein gepflegtes Äußeres und eine korrekte Aussprache ihres Schützlings kümmern und Edith in die besseren Kreise der französischen Gesellschaft einführen. Doch statt ein "gedrilltes Zirkuspferd" aus sich machen zu lassen, wie ein Freund argwöhnte, bleibt Edith Piaf das, was sie immer schon war: ein Kind aus der Unterschicht, das schmerzlich gelernt hat, sich zu behaupten.

Und die Wucht dieses Kampfes prägt die unglaubliche Bühnenpräsenz und die unverwechselbare Stimme der Piaf. Verzweifelt und leidenschaftlich singt sie von ihrer Sehnsucht nach Liebe und den großen Enttäuschungen, die sie in immer neuen Beziehungen zu Männern erlebt. "Wenn ich auch die Männer sehr geliebt habe, blieben sie doch immer ’die Anderen’. Dagegen meine Chansons, das bin ich, das ist mein Fleisch, mein Blut, mein Kopf, mein Herz, meine Seele."

Überhaupt, die Männer. Kaum eine Liebschaft entwickelt sich zu einer dauerhaften Beziehung. Im Lauf der Jahre tauchen Namen wie Eddie Constantine, Charles Aznavour und George Moustaki ("Milord") auf. "Für mich war die Liebe Krach, dicke Lügen und Ohrfeigen rechts und links." Als sie im Sommer 1944 am Pariser Moulin Rouge engagiert ist, lernt sie Yves Montand kennen. Montand ist sechs Jahre jünger und steht am Beginn einer Karriere als Schauspieler und Sänger, die die Piaf zunächst tatkräftig fördert. Doch sie verlässt ihn nach kurzer Zeit für Jean-Louis Jaubert, Kopf der Vokalgruppe "Les Compagnons de la Chanson", die durch Edith berühmt werden.

In dieser Zeit traut sie sich erstmals, ein eigenes Lied zu schreiben. "La vie en rose" handelt von einem Menschen, der im siebten Himmel schwebt. Das Chanson mit einer Melodie von Louis Guglielmi wird am 5. November 1945 aufgenommen und macht die Piaf weltberühmt. 1947 bricht sie zu einer fünfmonatigen Tournee in die USA auf. Nach anfänglicher Skepsis liegen ihr auch die Amerikaner zu Füßen – inklusive Marlene Dietrich, die anreist, um ihre Kollegin zu hören und "La vie en rose" in ihr Konzertprogramm aufnimmt.

In New York lernt die Piaf den verheirateten Boxer Marcel Cerdan kennen. Auch diese Liebe endet tragisch: Auf dem Weg zu einem Treffen mit Edith in New York stürzt Cerdans Flugzeug über den Azoren ab. Die Piaf macht sich Vorwürfe, weil sie ihren Geliebten gebeten hatte, eine andere Maschine zu nehmen, um früher bei ihr sein zu können. Sie fühlt sich schuldig und einsam; ihr ohnehin schon bedenklicher Alkohol- und Tablettenkonsum nimmt gefährliche Formen an.

Dazu kommt eine Morphium-Abhängigkeit. Sie resultiert aus der Schmerzbehandlung, die sie seit einem durch ihren Geliebten Georges Moustaki verursachten Autounfall bekommt. Ein Teufelskreis setzt ein: Edith kann nicht mehr ohne Alkohol und Aufputschmittel auf die Bühne – doch sie muss ihre Drogenabhängigkeit mit Auftritten finanzieren. Pfiffe aus dem Publikum sind keine Seltenheit, wenn sie betrunken ist und sich nicht mehr an den Liedtext erinnern kann.

In den 1950er Jahren begibt sich die Piaf mehrmals zur Entgiftung in eine Klinik, hat aber immer wieder mit Rückfällen zu kämpfen. Doch sie singt tapfer weiter. Für die kleine Sängerin mit der großen Stimme gilt, was sonst klischeehaft klingt: Es scheint, als singe sie um ihr Leben. Legendär ist ihr Auftritt im berühmten Olympia in Paris, wo sie 1958 drei Monate lang jeden Abend vor ausverkauftem Haus auftritt. Aber am 20. September 1959 bricht sie auf der Bühne des New Yorker Waldorf Astoria zusammen. Die Ärzte diagnostizieren bei ihr nach einem Magendurchbruch Leberkrebs. Unheilbar. Während sie im Krankenhaus liegt, trennt sich Georges Moustaki von ihr.

Obwohl die Todkranke alle geplanten Auftritte absagen muss, arbeitet sie weiter an neuen Liedern. Am 5. Oktober 1960 bekommt sie zuhause in Paris Besuch von Michel Vaucaire und Charles Dumont, die ihr das Chanson "Non, je ne regrette rien" (Nein, ich bedaure nichts) vorstellen wollen. Darin lässt die Protagonistin ihr Leben Revue passieren mit positiven und negativen Begebenheiten, denn sie möchte mit sich, ihren Liebesbeziehungen, Leiden und Freuden ins Reine kommen. In der Nacht wendet sich Piaf an den Komponisten Dumont: "Junger Mann, machen Sie sich keine Sorgen mehr. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet. Dieses Lied wird um die Welt gehen."

Am 10. November singt sie die Ode an den Lebensdrang und den Liebeshunger mit dem Orchester Robert Chauvigny in den Pariser Tonstudios der EMI ein und veröffentlicht sie im Dezember auf Schallplatte. Piaf fleht den Besitzer des Olympia-Theaters an, sein von der Pleite bedrohtes Haus für einen Termin zu reservieren, an dem sie ihr wundervolles Chanson vorstellen kann. Am 30. Dezember empfangen tausende Piaf-Fans im Olympia die Chansonnette mit einem viertelstündigen Applaus. Binnen eines Jahres verkauft sich die Platte "Non, je ne regrette rien" allein in Frankreich eine Million Mal. Sie soll sie unsterblich machen.

1962 heiratet Edith Piaf den 20 Jahre jüngeren Griechen Theophanis Lamboukas in Paris. Böse Kommentare begleiten das ungleiche Paar. Mit Lamboukas, der Sänger werden will, zieht sich die todkranke Künstlerin in eine Villa in Plascassier bei Grasse zurück, wo sie am 10. Oktober 1963 im Alter von 47 Jahren stirbt. Ihr Tod wird erst am nächsten Tag bekannt gegeben, um den Leichnam heimlich nach Paris überführen zu können: Eine Piaf darf nur in Paris sterben. Am 14. Oktober begleiten sie 40.000 Menschen auf ihrem letzten Weg zum Pariser Prominentenfriedhof Père Lachaise im Stadtteil Belleville.

Auf Edith Piafs Lebenserinnerungen "Mein Leben" beruht der Film "La vie en rose", der 2007 in die Kinos kam. Hauptdarstellerin Marion Cotillard erhielt für ihre außergewöhnlich einfühlsame Darstellung der Piaf einen Oscar.