Doors-Legende

Vor 50 Jahren starb Jim Morrison

"Der Tod macht uns zu Engeln". Sein Ende war nur der Anfang einer faszinierenden posthumen Karriere.

30.06.2021 UPDATE: 03.07.2021 06:00 Uhr 5 Minuten, 8 Sekunden
Jim Morrison. Foto: Palmyra Verlag

Von Daniel Schottmüller

Paris. Von einem "Inzest offenbarenden Kinn" ist die Rede. Von "Hundemännern" und einem "lose befolgten Gemüsegesetz". Soweit so vage. In der dritten Strophe des Gedichts findet der Autor dann aber doch eindeutigere Worte: "Der Tod macht uns zu Engeln. Er gibt uns Flügel, wo wir Schultern hatten, hart wie Rabenklauen ..." Es wirkt prophetisch, wie Jim Morrison in diesen Zeilen seines "A Feast of Friends" die transformative Kraft des Sterbens heraufbeschwört: Kaum ein Musiker des 20. Jahrhunderts sollte zu solch posthumen Höhenflügen ansetzen wie der am 3. Juli 1971 verstorbene Doors-Sänger.

Bands von Deep Purple über Aerosmith bis zu den Ramones haben die psychedelischen Songs der Gruppe gecovert. Im neuen Jahrtausend waren es Rapper wie Snoop Dogg und Tech9, die sich an "Riders on the Storm" oder "Strange Days" versuchten. Zuletzt fühlte sich Dubstep-DJ Skrillex berufen, eine bassgeschwängerte "Light my Fire"-Version aufzunehmen. Keine Frage, Morrison und seine musikalisch noch versierteren Bandkollegen haben an der Kreuzung von Rock, Blues und Jazz etwas ganz Eigenes geschaffen: ein Klanggebilde, das fließend die Formen wechselt. Mal meint man, Chopin oder Weill herauszuhören. Mal klingt es nach Jahrmarkt, Flamenco oder Raga. Und doch ist die Musik nur bedingt für die Faszination der Doors verantwortlich. Am Ende geht es um den Frontmann.

In den fünf Jahrzehnten, seitdem Morrisons Leichnam in der Rue Beautreillis in Paris gefunden wurde, hat man sein Leben in Dutzenden Büchern und Filmen – zuletzt in einer von Johnny Depp eingesprochenen Doku – nacherzählt. Heute blickt der Mann mit den Engelslocken weltweit von Fahnen, Postern und Graffitis auf seine Fans herab. Joel Brodskys ikonisches Foto eines halb nackten, damals 23-jährigen Jim Morrison hat es längst aus WG-Wohnzimmern und Rockkneipen herausgeschafft: Ketten wie H&M sorgen dafür, dass die Jugend das Antlitz des Vorzeige-Rockstars auf T-Shirts spazieren trägt. Das war nicht immer so.

Jim Morrison bei einem Auftritt. Foto: dpa

Als ein übergewichtiger, von Jahren des Drogen- und Alkoholmissbrauchs gezeichneter Morrison im Alter von 27 Jahren an Herzversagen starb, fielen die Reaktionen nicht unbedingt so aus, wie man es heute erwarten könnte. Mit Brian Jones, Jimi Hendrix und Janis Joplin hatten sich kurz zuvor bereits drei musikalische Größen der "Counterculture" verabschiedet. Dass sich ein weiterer dem Exzess verfallener Rocker ins Jenseits befördert hatte, schockierte wenige. Tatsächlich sorgte die Nachricht vom Ableben der Jazzlegende Louis Armstrong, drei Tage nach Morrisons Tod, für deutlich größere öffentliche Betroffenheit, wie der "Rolling Stone" rückblickend konstatiert.

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Im Laufe der Zeit wurde das Grab des Doors-Sängers zur Pilgerstätte. Foto: Palmyra Verlag

Musikjournalist, Autor und Doors-Fan Jerry Hopkins erzählte später, er habe in den Jahren nach 1971 immer wieder versucht, Verlage von der Idee einer Morrison-Biografie zu überzeugen. Die abschmetternde Reaktion: "Seine Zeit ist vorbei." Ja, vermutlich wäre der Sänger nur eingeschworenen Rockenthusiasten in Erinnerung geblieben, wäre nicht Francis Ford Coppola gewesen. Acht Jahre nach Morrisons Tod entschied sich der Regisseur, die Eingangsszenen seines Vietnam-Films "Apocalypse Now" mit den geheimnisvollen Klängen des Doors-Epos "The End" zu untermalen. Das Ende als Anfang? Ein genialer Einfall.

Beeindruckt von Coppolas Bildern, begann sich unter einer neuen Generation von Jugendlichen Interesse an diesem dunklen Dröhnen aus der Vergangenheit zu regen. Wer war der Mann, der hier von Liebe und Verlust sang, zwischenzeitlich eine ödipale Mordszene inszenierte, um zum Schluss des zwölfminütigen Songs in wildes Stöhnen auszubrechen? Das aufkeimende Interesse bemerkten auch die drei verbliebenen Doors-Mitglieder Robby Krieger, Ray Manzarek und John Densmore. Nach zwei erfolglosen Alben ohne Morrison hatte sich die Gruppe 1972 aufgelöst, sechs Jahre später aber darauf geeinigt, noch einige Gedichtaufnahmen des Ex-Sängers – unter anderem "A Feast of Friends" – zu vertonen. Mit dem Erfolg von "Apocalypse Now" zogen auch die Absatzzahlen des Poesiealbums "An American Prayer" zaghaft an. War Morrisons Zeit etwa doch noch nicht vorbei?

Die Verlagshäuser kalkulierten jedenfalls neu. Als Jerry Hopkins und Co-Autor Danny Sugerman – ein einstiger Saufkumpane des Rockstars – die neueste Fassung ihres Manuskripts um die Behauptung anreicherten, Morrison habe seinen Tod vielleicht nur vorgetäuscht, war der Bann gebrochen. Mit der Veröffentlichung des ironisch betitelten "No One Here Gets Out Alive" ("Keiner kommt hier lebend raus") im Jahr 1980 war die posthume Karriere des Sängers abflugbereit.

Von Sugerman und Hopkins angefixt, kramten Jugendliche aus den Plattensammlungen ihrer Eltern die alten Doors-Alben hervor. Morrisons von Symbolen überwucherte Texte wurden nach vermeintlichen Hinweisen durchforstet: Hatte er in "The Changeling" nicht prophezeit, dass er sich verändern würde? Deutete nicht schon der exotische Beiname "Lizard King" ("Eidechsenkönig") an, dass er echsengleich seine alte Identität abwerfen und von vorne anfangen würde?

Es waren und sind aber nicht nur Morrisons von Tod, Blut und anzüglichen Andeutungen durchtränkte Texte, die bis heute zur Interpretation einladen. Der Mann, der zu Lebzeiten nicht einmal fünf Jahre im Rampenlicht stand, vereinigt noch mehr Eigenschaften, die moderne Mythenforscher aufhorchen lassen. Vor allem fällt da eine nicht zu leugnende Ambiguität ins Auge. Wie James Dean und Tupac Shakur verkörpert der Doors-Sänger zugleich Sensibilität und Rebellion. Wie Elvis Presley verbindet er Machismo mit einem fast femininen Äußeren. Wie Prinzessin Diana und Kurt Cobain wirkte er zu Lebzeiten scheu und doch dankbar für Aufmerksamkeit. Und wie alle der gerade Genannten war Morrison erfolgreich und beliebt, schien dabei aber auch (oder vielleicht sogar darunter?) zu leiden.

Kein Zufall, würden Wissenschaftler wie Joseph Campbell sagen. Sie argumentieren, dass bereits im Mittelalter jene Menschen als Heilige verehrt wurden, die in ihrem Handeln Interpretationsspielraum ließen. Je aktiver das Publikum selbst werden muss, je mehr es an ihm liegt, Sinn zu stiften, wo Uneindeutigkeit vorherrscht, umso mehr Emotionen knüpft es an einen Verstorbenen. Der amerikanische Anthropologe Eric W. Rothenbuhler geht sogar einen Schritt weiter. Er spricht von der Tendenz, eine Berühmtheit nach ihrem Tod wie einen Haken zu verwenden, "an dem wir Geschichten aufhängen".

Das Grab von James Douglas «Jim» Morrison auf dem Friedhof Le Pere Lachaise. Foto: dpa

Genau das geschah in den folgenden Jahren, in denen Freunde, Bandkollegen, Groupies und Fans mit eigenen Veröffentlichungen den Deutungsspielraum erweiterten. Doors-Keyboarder Ray Manzarek beschrieb Morrison als einen warmherzigen Freund, wie man ihn sich loyaler nicht wünschen kann. Für Schlagzeuger John Densmore war er dagegen der "Prinz der Dunkelheit", ein talentierter, aber boshafter Egomane. Patricia Kennealy-Morrison schilderte ihren berühmten Bettgefährten als idealen Liebhaber, während der Autor Stephen Davis anklingen ließ, Morrison sei womöglich ein bisexueller und sadistischer Rassist gewesen.

Als wären diese Widersprüche nicht spannend genug, begann man, im wahrsten Sinne des Wortes Heldengeschichten zu erzählen. Wo der Sänger zu Lebzeiten meist mit Mick Jagger verglichen wurde, mussten nun antike Helden herhalten. Achilles, Dionysos, Alexander der Große, selbst Venus fanden Eingang in Morrisons Geschichte. Und wie es sich für guten Sagenstoff gehört, entstieg der Protagonist nun in eindrucksvollen Szenen dem Wasser oder dem Nebel. Einige der Bücher deuteten sogar an, dass Morrison wie einst Christus verraten worden sei. Nicht der junge Mann selbst, sondern – je nach Ansicht des Autors – die Presse, die Band oder die Fans wurden für Leiden und Tod des "Lizard King" verantwortlich gemacht. Einige Biografen gingen so weit, ihm messianische Vorahnungen seines frühen Ablebens anzudichten. Kein Wunder, dass sich Morrisons inzwischen von Absperrungen und Wachpersonal geschütztes Grab auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise in dieser Zeit zu einer Art Pilgerstätte entwickelte.

1991 ließ Oliver Stone dann in seinem Spielfilm "The Doors" einen Jim Morrison auftreten, der fast ausschließlich in Gedicht- und Songzeilen spricht: ein Künstler in allen Lebenslagen. Dieses Verständnis des Sängers spiegelt sich auch in folgenden Veröffentlichungen. Am auffälligsten äußert es sich in den Schilderungen des "Miami Vorfalls".

Bei einem Auftritt im Jahr 1969 hatte ein lallender Morrison das Publikum beschimpft; gedroht, sein Gemächt auszupacken und das Konzert schließlich vorzeitig abgebrochen, ohne ein einziges Lied zu Ende gesungen zu haben. Der Vorfall, der damals für Enttäuschung unter den Fans gesorgt hatte, wird in Büchern und Dokus der letzten Jahre als ein gezielter Akt künstlerischer Provokation geschildert. Morrison habe nicht seinen Anhängern, sondern dem Establishment und ausgedienten Denkmustern den Mittelfinger gezeigt. Eine interessante Interpretation, steht sie doch exemplarisch für so vieles, was über den Sänger in den vergangenen 50 Jahren erzählt und geschrieben wurde.

Am Ende beweist Jim Morrisons fortlaufende posthume Karriere vor allem eins: die schier unendliche Kreativität und Hingabe, mit der wir bestimmten Menschen begegnen. Tragischerweise oft erst dann, wenn sie nicht mehr unter uns sind.