Von Tim Kegel
Sinsheim. Verzweiflung macht sich nicht breit unter den Sinsheimer Einzelhändlern. Sie ist längst da. Anmerken lässt sich das kaum einer, doch viele Nebensätze sprechen Bände. Am Tag vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über eine weitere Verschärfung der Corona-Maßnahmen herrschte in der leergefegten Sinsheimer Innenstadt vor allem Verunsicherung.
Und nicht nur dort. Weil es zu Szenen kommt, die nicht nachvollziehbar sind: Im Gärtnergeschäft von Rudi Sitzler – bekannt vom Wochenmarkt – werden Gemüsekäufer per Schild auf einen "Blumen-Lockdown" hingewiesen: Gurken oder Pflaumen darf er verkaufen, Blumen nicht: keine Dinge des täglichen Bedarfs. "Ein Alpenveilchen", sagt die Verkäuferin, "kann für unsere älteren Kundinnen etwas verdammt Wichtiges sein." Davon ist auch Christiane Risch-Kübler von "Die Binderei" in der Bahnhofstraße überzeugt. Wie die Sitzlers darf sie nur Blumen auf Bestellung anbieten. Sie und ihr Team in Kurzarbeit drücken aus, was viele Einzelhändler sagen: "Die Corona-Krise wird auf dem Rücken der Kleinen ausgetragen."
Beispiel "Globus"-Einkaufsmarkt: Dort hat Sonja Huber, zuständig für das Kleidungsgeschäft "Wunderschön", vor Weihnachten erlebt, "dass Handtücher bestickt" wurden, individuell für die Hundertschaften von Kunden des Supermarkts; Discounter wie "Lidl" und "Aldi" bauten in der jüngsten Zeit ihre Vollsortimente spürbar aggressiver aus. "Die Ungleichbehandlung" wird von Händlern oft als demütigend empfunden. Dies, zumal es in den 23 Filialen, mit denen Huber in einem Verbund zusammenarbeitet, "nie eine Infektion gegeben" habe – weder unter Mitarbeitern, noch seien Ansteckungen unter Kunden bekannt geworden. Sie glaubt: "Die meisten Kleinen könnten mit Auflagen öffnen."
Der erste Lockdown habe den Handel weit weniger stark getroffen: An der sinkenden Kooperationsbereitschaft der Lieferanten spürt die Geschäftsfrau nun, dass "jeder nur noch am Kämpfen ist". Wie lange sie selbst noch kämpfen kann? "Bis Ostern wäre eine Katastrophe." Und so schaut sie "auf die Ticker" und hört "jede Menge Gerüchte": Zuletzt stand in einer großen Tageszeitung, dass "die Winterware ersetzt werden soll". Ein Hoffnungsfunke angesichts "voller Lager", selbst wenn Huber sich fragt, "wo der Staat das ganze Geld herbekommt".
Das fragt man sich auch bei Lederwaren Gmelin, Sinsheims bei weitem ältesten Familienbetrieb. Seit 1649 überlebten die Alt-Sinsheimer Geschäftsleute Krisen und Kriege. Der Seniorchef blickt mit Sorge die Bahnhofstraße hinunter, hat eine Idee, fasst allen Mut zusammen und sagt leise etwas, das vor Kurzem auch bei Maybritt Illners Fernsehtalk Thema war: "Beamte sollten etwas abgeben", denkt er. Er meint Staatsdiener "in höherer Position" und denkt "an 3,5 Prozent" des Solds. Verbitterung klingt mit, wenn man mit einigen hier spricht.
Blumen-Verkauf im „Blumen-Lockdown“ – so und ähnlich sind die Stilblüten der Corona-Verordnung. Foto: Tim Kegel"Click and Collect" – online oder telefonisch bestellen, im Laden abholen oder anliefern lassen – heißt nun der einzig gangbare Weg zum Verkauf "nicht lebensnotwendiger" Ware abseits der großen Märkte. Hier scheint sich jeder durchzuwursteln: Bei Gmelin etwa durch nummerierte Schaufenster und Erreichbarkeit auf vielen Kanälen; "Juwelier Schick" bietet "Lockdown-Öffnungszeiten" an, verbunden mit genau bestimmten Abhol-Terminen und auf Eins-zu-Eins-Kontakt beschränkt. Nahezu alle bieten so etwas an – und sei’s nur durch eine Handynummer an der Tür.
Alle Systeme haben gemein, dass sie ineffektiv sind, dass sie ein Geschäft kaum vor dem Untergang retten können. Und – typisch Sinsheim, auch in normalen Tagen – gibt es ein Ladenzeiten-Wirrwarr. Vormittags ist in der Regel jemand da – nachmittags ist jemand erreichbar. Am besten scheint es dort zu funktionieren, wo einer der "Großen" Infrastruktur stellt: "Wunderschön" beispielsweise ist "Zalando"-Partner.
"Es ist nur ein Tropfen", beschreibt Kindermode-Händlerin Yvonne Hockenberger in der Rosengasse den Verkauf über "Click and Collect", und es sei "sehr aufwendig", einen Minimalst-Umsatz zu generieren. Über "WhatsApp" gingen Bilderordner hin und her und es gebe ein großes Frage-Antwort-Spiel mit verschiedensten Kunden, das sie noch mit Humor nimmt. Auch sie ist der Ansicht, "dass Öffnen bei uns Kleinen einfacher wäre", doch sie darf es nicht. Anders wäre es, wenn Hockenberger als Baby- und Kleinkind-Fachmarkt gelten würde.
Ein solcher ist "Ida und Paul", Hockenbergers liebevoll dekoriertes Nachbargeschäft – und seit Dienstag als eines der wenigen Geschäfte der Innenstadt wieder offen. Nicht durch ein Schlupfloch, sondern weil die Inhaberin es genehmigt bekam. Die Lage will sie nicht kommentieren, sondern "jetzt einfach nur verkaufen können".
"Sehr grobschlächtig" seien die Verordnungen ausgestaltet, sagt Kaufmann Manfred Hütter. Der erneute Lockdown sei "ein Querschläger" gewesen, man habe bis in den Herbst "richtig Mut gekriegt". Hütter ist hin- und hergerissen, einerseits überzeugt, dass das Gros der Sinsheimer Händler "wieder eröffnen könnte". Viele Läden seien so strukturiert, "dass ein Kunde nach dem anderen einkaufen" könne, oder sich "Ströme gut verteilen und Waren entzerren" ließen, da auch die moderaten Mieten dies zuließen. Insofern habe Sinsheim "weniger gelitten als die Großstädte". Andererseits sagt Hütter aber auch, dass bei Lockerungen "der Kontrollaufwand hoch" sein würde: "Wer überwacht das?"
Das Virus sei Hütter selbst sehr nahe gerückt, sagt er. Obwohl er "bürgerliche Freiheitsrechte" hoch halte, könne er nachvollziehen, dass die Regierung die Bevölkerung in Angst versetze, "weil nur Angst die Vorsicht nährt". Andererseits sehe er bei Verwandten in Florenz, "dass alles offen ist", weshalb er bei künftigen Verordnungen "mehr Feintuning" fordert. Hütter räumt ein, dass die Krise "auch für uns schwer durchzuhalten" sei. Er endet aber zuversichtlich: "Nach Ostern ist die Sache in Ordnung."
Händler-Aktionen bürgerlichen Ungehorsams, die sich in Internet-Gruppen formieren – wie etwa die bundesweite Initiative "Wir machen auf" – kennen einige in der Bahnhofstraße: Im "Wunderschön" hält man wenig davon, auch Yvonne Hockenberger sieht es nicht ein, "Strafen zu riskieren" und dann trotzdem im leeren Laden zu stehen, weil sich die Bevölkerung ohnehin zurück hält. Ein anderer Gewerbetreibender, der anonym bleiben will, hegt gewisse Sympathien mit der Initiative: " Je nachdem, wie lange das noch geht, dürfte so etwas kommen."