Sinsheim. (kel) Die Zahl 70 markiert den absoluten Tiefpunkt. Gerade mal 70 Fünftklässler werden nach den Sommerferien von ihren Grundschulen aufs Wilhelmi-Gymnasium wechseln. Im letzten Jahr waren es noch 85. Und eine weiteres Jahr zuvor zählte man 129 Pennäler - aber damals gab es noch kein G9 an Nachbarschulen. Weil Eltern dem neunjährigen Weg zur Hochschulreife den Vorzug gegenüber dem Turbo-Abi geben, erleben das Neckarbischofsheimer Adolf-Schmitthenner-Gymnasium und und das Östringer Leibniz-Gymnasium einen Höhenflug, während dem Wilhelmi-Gymnasium die angestammten Schülerströme abhanden kommen. "Wir bluten aus, weil dieser Wettbewerb unter den Schulen unfair ist", sagt Oberbürgermeister Jörg Albrecht. Und ist aktiv geworden: Das Land soll korrigierend eingreifen und am Sinsheimer Gymnasium ebenfalls G9 zulassen. Mit dieser Forderung hat er sich an Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Kultusminister Andreas Stoch und an die Landespolitiker der Region gewandt.
"Wir bauen Druck auf", erklärt Sinsheims Stadtoberhaupt. Seine Sorge: Bleiben die Schülerzahlen dauerhaft auf Niedrigniveau, dann müssten eventuell Zusatzkurse in der Oberstufe zurückgefahren werden, trage das Gymnasium trotz anerkannt guter pädagogischer Arbeit einen Imageschaden davon und bleibe schulische Infrastruktur ungenutzt. WG-Schulleiter Thomas Gißmann schwant schon Schlimmes: "Die Bildung eines vernünftigen Oberstufenangebots ist so kaum mehr gewährleistet".
Sinsheims Verwaltung und Schulleitung führen einen Zwei-Fronten-Kampf: Im Osten hat das Adolf-Schmitthenner-Gymnasium etwa 20 Schüler aus dem Wilhelmi-Gebiet abgezogen, im Westen wechseln neun angehende Fünftklässler aus dem WG-Stammland aufs Leibniz. Unter dem Strich fehlt so eine ganze Klasse. Und dann sind da noch die beruflichen Schulen vor Ort, die nicht zuletzt damit werben, dass auch bei ihnen das G9-System gilt. "Früher", so schildert es Carmen Eckert-Leutz, Leiterin des städtischen Amts für Bildung, Familie und Soziales, "waren wir mindestens vierzügig, hatten oft auch fünf, sogar sechs Eingangsklassen". Aber inzwischen muss man froh sein, wenn man drei Klassen zusammenbringt. Im kleinen Neckarbischofsheim kommt das Doppelte zustande.
Für OB Albrecht hat gymnasiale Schwindsucht ihre Ursache nicht zuletzt in einer "Fehlentwicklung", an der die Politik nicht schuldlos ist. Er erinnert daran, dass G9 im Modellversuch als paralleles Zusatzangebot zu G8 gedacht gewesen sei, wobei zwei Züge dem G8 vorbehalten sein müssten. Aber davon sei keine Rede mehr. Tatsächlich bieten weder Neckarbischofsheim noch Östringen das eigentlich politisch gewollte Turbo-Abi an - weil es eben nicht nachgefragt ist. "Dann wird von der Ausnahme noch einmal eine Ausnahme gemacht", schimpft Albrecht. Sinsheim habe eine Regelschule und die dürfe nicht benachteiligt werden.
Was aus OB-Sicht erschwerend hinzu kommt: Da die Sachkostenbeiträge des Landes sich ausschließlich nach der Zahl der Gymnasiasten richten, gerät Sinsheim auch dabei ins Hintertreffen: Die Große Kreisstadt bewirtschaftet aus diesen Überweisungen auch noch neun Grundschulen, Neckarbischofsheim nur eine. Dass Sinsheim dann vielleicht auch noch den verstärkten Bustransport an andere Schulen zahlt oder zahlen soll und Neckarbischofsheim trotz zeitlicher Befristung des Modellversuchs hohe staatliche Zuschüsse zur Schaffung neuer Kapazitäten an seinem Gymnasium bekommt, bringt für den Stadtchef das Fass endgültig zum Überlaufen: "Das ist doch Wahnsinn".
Aus Sinsheimer Sicht gibt es nur eine Lösung: ebenfalls G9 anbieten zu können. Und zwar als Ergänzung zu G8. Und damit so, wie es eigentlich einmal gedacht war.