Ein altes Bahngleis erinnert an die Vergangenheit. Aus einem Bahnübergang bei Obrigheim wurde 1944 der „Bahnhof Finkenhof“. Die Umschlaghalle erschloss die geheime Rüstungsfabrik, die Daimler-Benz im Gipsstollen unter dem Decknamen „Goldfisch“ errichtete. Foto: Lahr
Von Peter Lahr
Obrigheim. Manchmal sind es die kleinen Zufälle, die einen Stein ins Rollen bringen. So berichtete vor einigen Tagen der Verkehrsfunk von einer Straßensperrung zwischen dem Mosbacher Kreuz und dem Bahnhof Finkenhof. Bahnhof – was? Ein Blick auf die digitale Landkarte führt den Suchenden in die Nähe von Obrigheim unweit des Neckars, etwa zwischen Schloss Neuburg und dem Mosbacher Kreuz. Welche Geschichte mag dahinter verborgen liegen?
"Es war immer ein bisschen unscharf, ein beschrankter Bahnübergang kreuzte den Weg zum Finkenhof, einem Aussiedlerhof, der oben auf dem Berg lag", weiß Dorothee Roos, Vorsitzende des Vereins KZ-Gedenkstätte Neckarelz über die Ursprünge des sogenannten Bahnhofs. Tatsächlich entstand 1862 die Badische Odenwaldbahn, die Aglasterhausen und Mosbach verband. Die genaue Streckenführung und ihr heutiges Aussehen hat Reiner Schruft auf der Internetseite "Vergessene Bahnen" metergenau und mit zahlreichen Fotos dokumentiert. Vor Ort erinnern ein Eisenbahntunnel und ein Bahnwärterhaus an diese Frühzeit der Bahn.
Man habe damals das Neckartal bewusst gemieden, weiß Obrigheims Bürgermeister Achim Walter: "Denn man wollte nicht über hessisches Gebiet." Deshalb nahm man für die Trasse manch einen Höhenmeter in Kauf. Den Neckar querte die alte Eisenbahnbrücke unweit der jetzigen Straßenbrücke. Bis heute sind die alten Fundamente im Gelände zu erkennen. Mit dem Bau der Neckartrasse wurde die alte Bahnstrecke bereits 1879 bedeutungslos.
Hieß der eher schlichte Bahnübergang im Obrigheimer Volksmund spaßeshalber "Bahnhof Finkenhof", so entstand hier 1944 tatsächlich ein "echter" Bahnhof – zumindest eine geheime Bahn-Verladestation inklusive Lagerhalle. Letztere erhielt später den Beinamen "Hengstenberghalle", befindet sich heute in Privatbesitz und wird weiterhin gewerblich genutzt. "Ohne den günstigen Bahnanschluss hätte es die geheime Rüstungsfabrik mit dem Tarnnamen "Goldfisch" wahrscheinlich nicht gegeben", vermuten die Geschichtsexperten. Denn Daimler-Benz nutzte den Nordausgang des Eisenbahntunnels, um hier einen regelrechten Werksbahnhof einzurichten, der zudem als Rohlager für Materialien diente.
Im Frühjahr/Sommer 1944 mussten KZ-Häftlinge die entsprechende Fläche aus dem bislang als Wein- und Obsthang genutzten Areal abgraben und planieren. Danach entstand "unter großem Arbeitsdruck der Bahnhof Finkenhof", ist heute an einer Schautafel des Goldfisch-Lehrpfads zu lesen.
Bürgermeister Walter weiß von mehreren Hallen, die dem Auf- und Abbau der Maschinen dienten. 10.000 Menschen, davon gut die Hälfte KZ-Häftlinge aus den Außenlagern in Neckarzimmern, Neckargerach, Neckarelz und Mosbach, mussten hier teilweise bis zum Umfallen schuften, um eine unterirdische und somit bombensichere Flugzeugmotorenfabrik zu errichten. Nach dem Krieg wurde die Halle mehrmals umgebaut. Von den Bahngleisen blieben zehn Meter als "Souvenir".
Vor Ort erinnert ein Eisenbahntunnel an die Badische Odenwaldbahn. Foto: LahrWeitere "Ruinen" im Gelände zeugen vom gigantischen Rüstungsverlagerungsprojekt "Goldfisch" und sind in Form eines Lehrpfades seit gut zwei Jahrzehnten gut erschlossen. Dass der Karlsbergtunnel, der nur auf einer Seite zugemauert ist, immer wieder allerlei "Gäste" anlockt, davon berichtet Bürgermeister Walter. Im Rathausarchiv fand Birgit Siebig sogar ein historisches Foto des Bahnübergangs. Die Vorderfront der Halle hat sich in den letzten Jahrzehnten trotz mehrere Umbauten kaum verändert. Luftbilder sind auch in Tobias Markowitschs Standardwerk "Verlagert – demontiert – ausgeschlachtet. Goldfisch 1944-1974" abgebildet, auf das nicht nur Karl Heinz Neser verweist. Der Vorsitzende des Obrigheimer Heimatvereins, der auch das Heimatmuseum betreibt, befasst sich derzeit selbst mit einem Teil der Badischen Odenwaldbahn, nämlich der Eisenbahnbrücke. Er beweist damit unschwer, dass man selbst stillgelegte Bahntrassen zum Sprechen bringen kann.