In Schritten weg von der Notbetreuung: Am Montag startete in vielen Kindergärten in Baden-Württemberg der eingeschränkte Regelbetrieb, Kinderärzte fordern eine baldige Rückkehr zum Normalbetrieb. Foto: dpa
Von Stephanie Kern
Neckar-Odenwald-Kreis. Yannik findet es nur noch langweilig zu Hause. Der Fünfjährige vermisst seine Spielkameraden. Sein Vater arbeitet in einem präsenzpflichtigen Beruf, die Mutter ist im Homeoffice – von Betreuung kann keine Rede sein. Alle Hoffnungen der Familien lagen in den vergangenen beiden Wochen auf der weiteren Öffnung der Kitas und Kindergärten. "Doch wir fallen nicht unter die vom Träger festgelegten Kriterien", berichtet die Mutter von Yannik. Betreuung im Kindergarten wird es für diese Familie vorerst nicht geben.
Am heutigen Mittwoch steht die Familienministerkonferenz mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey auf der Agenda. Kurz zuvor hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) ihre Forderung nach einer zügigen Öffnung der Kindergärten und Vorschulen bekräftigt. "Wir plädieren eindrücklich für eine kontrollierte Öffnung von Betreuungseinrichtungen im Vorschulalter", heißt es in einer Stellungnahme.
Auch die Kinderärzte in der Region plädieren dafür, dass Kinderbetreuung bald wieder ermöglicht werden sollte. "Ich bin für baldige Öffnungen, habe dabei aber auch so meine Bedenken", erklärt etwa Dr. Wolfgang Beck. Der Kinderarzt leitet eine Praxis in Neckarelz. Prinzipiell steht er hinter der Forderung, Kindergärten so bald wie möglich wieder zu öffnen. Man müsse dabei aber auch im Blick haben, welche Konsequenzen das habe. "Auch Kinder mit leichten Erkältungssymptomen werden dann zu den Kinderärzten geschickt werden. Und da gibt es dann keine einheitlichen Vorgaben", berichtet Beck. Er wisse etwa nicht, ob er dann einen Corona-Test veranlassen oder nur bescheinigen soll, dass die Kinder nicht ansteckend sind. "Das wird die Schwierigkeit sein, und da bin ich auch zwiegespalten", sagt Beck. Dennoch sei es wichtig, dass Kinder bald wieder betreut würden.
"Manchen Kindern tut es vielleicht gut, nicht im Kindergarten zu sein. In manchen Familien kann sich vielleicht auch ein Elternteil ganztags um die Kinder kümmern. Aber das ist nicht in allen Familien so", meint Beck. "In der Mehrheit wird es so sein, dass den Kindern die Kontakte fehlen." Und die Eltern im Homeoffice eben keine Zeit haben, um mit den Kindern zu spielen. Gerade im Hinblick auf andere Öffnungen solle man nun auch an die Kinder denken. "Wenn ich alles zusammenfasse und an die Erlebnisse in meinem Kinderarzt-Alltag denke, dann müssen die Kinder wieder betreut werden und unter andere Kinder gelassen werden", lautet Becks Fazit.
Hinter der Forderung des Dachverbands steht auch Dr. Daniel Vater. "Aber man muss auch ein paar Dinge bedenken", sagt er. "Aus entwicklungsneurologischer Sicht ist es ja eine Vollkatastrophe für die Kinder, die ganze Zeit über so isoliert zu sein." Andererseits haben die Maßnahmen auch einen Grund. Die Aussagen zur Rolle von Kindern bei der Weitergabe der Infektion und bei der Infektion selbst seien sehr unterschiedlich. "Deshalb habe ich auch selbst an der Studie der Universität Heidelberg teilgenommen", berichtet Vater. Sein Bauchgefühl sage ihm aber: Die Rolle der Kinder sei gering einzuschätzen. "Die Kinder brauchen wieder Normalität. Dass Kinder wieder in ein soziales Miteinander kommen, spielen dürfen, ja, sich außerhalb eines Kinderzimmers entwickeln dürfen, das fehlt am meisten."
Lydia Adrians ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Mosbach. Auch sie sieht die dauerhafte Schließung der Kindergärten kritisch. "Und ich sehe auch, dass sich die Situation in Familien zuspitzt", erklärt Adrians. Von der Familienministerkonferenz erhofft sie sich eine Einigung. "Ich hoffe, dass alle Kinder wieder in die Betreuungseinrichtungen dürfen, wenn auch nur tageweise oder zu verkürzten Zeiten." Sie selbst hält in dieser Zeit auch per Videochat Kontakt zu ihren Patienten. Und langsam merke man, dass die Kinder ihre Freunde vermissen. "Es ist auf Dauer für die Entwicklung der Kinder nicht gut, wenn sie nicht in die Betreuungseinrichtungen dürfen ", meint die Therapeutin. Auch den Eltern werde zurzeit viel abverlangt.
Dr. Susanne Eisenmann, Kultusministerin in Baden-Württemberg, sagte gestern: "Die bereits vorliegenden Erkenntnisse aus Sachsen und die Einschätzung der vier medizinischen Fachgesellschaften haben wir zuletzt schon sehr ernstgenommen. Nun gibt es bei der von der Landesregierung in Auftrag gegebenen Studie des Uniklinikums Heidelberg und seiner Partner Signale, wonach Kinder bis zehn Jahre als Überträger eine untergeordnete Rolle spielen. Deshalb werden wir nun zügig gemeinsam mit den Kommunen und den Trägerverbänden einen Rechtsrahmen erarbeiten, um spätestens bis Ende Juni die Kitas wieder vollständig öffnen zu können. Zudem entwickeln wir ein Konzept für die weitere Öffnung der Grundschulen. Mit diesen Schritten bieten wir Familien mit kleineren Kindern eine echte Perspektive." Die Öffnung müsse aber gründlich vorbereitet werden.