Es fehlen Hunderte Medikamente

"Apotheken betreiben Mangelverwaltung"

Hiesiges Mitglied in Beirat des Landesapothekerverbandes warnt: Bis zu 500 Wirkstoffe nicht lieferbar - Kaum noch Produktion im Inland

27.11.2019 UPDATE: 28.11.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 35 Sekunden
„Wir können nicht einfach auf andere Präparate ausweichen“, sagt Apotheker Frank Knecht, Beirat des Landesapothekerverbands für die Region Heidelberg. Foto: Dorn

Von Elisabeth Murr-Brück

Heidelberg. Der Kunde, der im April die Hirsch-Apotheke von Arnt Heilmann in Hirschhorn aufsuchte, war aufgeregt. Bei seiner Frau bestand der dringende Verdacht auf eine Tollwut-Infektion. Aber: Es war gerade kein Impfstoff verfügbar. Schon in vielen Apotheken hatte der Stuttgarter vergeblich gefragt. Als er weitab im Neckartal fündig wurde, war er "sichtlich erleichtert". Dass Medikamente nicht lieferbar sind, ist inzwischen Alltag auch in den Apotheken der Region.

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Mehr als 120 "durchwegs gängige" Arzneien, die Apotheker Heilmann "eigentlich auf Lager haben sollte", sind nicht da, weil der Großhändler sie auch nicht hat. Über hundert sind es in der Stadtapotheke in Schönau oder in der Handschuhsheimer Rosen-Apotheke. Alle befragten Apotheker nennen ähnliche Zahlen. Besonders prekär ist die Lage derzeit bei Schmerzmitteln wie Ibuprofen, beim Blutdrucksenker Candesartan und bei Anti-Depressiva mit dem Wirkstoff Venlafaxin. Aber das Problem zieht sich durch das gesamte Sortiment, unkalkulierbar mit einer täglich veränderten Situation. Manchmal dauert der Liefer-Engpass nur ein paar Wochen, manchmal Monate.

Frank Knecht. Foto: zg

Es können Augentropfen sein, ein Antibiotikum oder eine Anti-Baby-Pille. Eine vorbeugende Impfung gegen Gürtelrose ist für ältere Menschen seit Mai Kassenleistung. Aber seit Monaten gibt es keinen Impfstoff und für die Pflicht-Impfung der Kinder gegen Masern nur den Mehrfach-Impfstoff. Mal bekommen Epileptiker ihr Medikament nicht, mal gibt es gerade kein Mittel gegen Krätze, die sich (von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt) wieder massiv ausbreitet; auch Propofol, eines der wichtigsten Narkosemittel, ist knapp. "Apotheken betreiben eine Mangelverwaltung", sagt Frank Knecht.

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Der Inhaber mehrerer Apotheken im Neckartal sitzt im Beirat des Landesapothekerverbands für die Region Heidelberg. Er schätzt, dass derzeit 400 bis 500 Wirkstoffe nicht lieferbar sind und sich das Problem noch weiter zuspitzen wird. Kassen und Politik sehen die Versorgung nicht gefährdet, weil man ja auf andere Wirkstoffe ausweichen könne, dabei würden sie aber ignorieren, dass Ärzte verschreiben, was am besten zur individuellen Situation der Patienten passt.

Als Martina Spreng von der Stadtapotheke Schönau ein Schilddrüsenmedikament nicht beschaffen konnte, standen auch die Patientin und ihr Arzt vor einem erheblichen Problem: "Das therapeutische Spektrum ist hier sehr begrenzt." In Mannheim konnte Apothekerin Doris Herre trotz aller Bemühungen für einen Patienten sein bewährtes Psychopharmakon nicht mehr zuverlässig beschaffen. Die Umstellung auf einen anderen Wirkstoff ist hier extrem problematisch.

Allein für Rücksprachen mit den Ärzten, die Suche nach Medikamenten und möglichen Alternativen veranschlagen die Apotheken im Schnitt ein bis zwei Stunden täglich. Es ist zudem wirtschaftlich riskant, denn über die Lieferverträge der Krankenkassen sind die Apotheken an bestimmte Lieferwege gebunden. Erst wenn neben dem vertraglich vereinbarten Großhändler zwei weitere das gewünschte Präparat nicht liefern können und das alles genau dokumentiert ist, dürfen sie auf dem Markt weiter suchen. Das alles kostet Zeit, und bei jedem dokumentarischen Fehler erstattet die Kasse den Preis nicht.

Aber warum gibt es die Versorgungs- und Lieferprobleme bei wichtigen Medikamenten überhaupt? "Deutschland ist schon lange ein Land der Generika, der Nachahmer-Präparate", sagt Frank Knecht. Somit beziehen inzwischen frühere Niedrigpreis-Länder ihre Medikamente aus Deutschland, eine Sache, die die Lage zusätzlich verschärft. Mit den Herstellern handeln die Kassen Rabattverträge aus, jene geben den Preisdruck an die Hersteller der Wirkstoffe weiter.

Von einigen kleineren Familienunternehmen abgesehen, gibt es in Deutschland keine namhaften Hersteller mehr, die auch im Inland produzieren. Der größte Teil der Wirkstoffe kommt aus Indien oder aus China. Eine Tatsache, die viele besorgt macht: "Politisch wie geologisch sind diese Gebiete unsicher", sagt "Rosen"-Apotheker Stefan Keidel. Fällt ein Hersteller aus, fehlt er auf dem Weltmarkt.

Prominentes Beispiel aus dem vergangenen Jahr: der Blutdrucksenker Valsartan, der wegen eines möglicherweise krebserregenden Bestandteils vom Markt genommen wurde. "Wir können nicht einfach auf ein anderes Präparat ausweichen, wenn der Weltmarkt nicht ausreichend versorgt ist", sagt Frank Knecht.

Seit Jahren hätten Apotheker auf das Problem hingewiesen, jetzt, wo es sich immer mehr zuspitze, nehme es die Politik zur Kenntnis. Die Zeit, in der man in der Apotheke ein Medikament holen konnte wie ein Brot beim Bäcker, wird seiner Ansicht nach nicht wieder kommen: "Wir müssen aber eine Grundsatzdiskussion darüber führen, wie wir eine sichere, Patienten-gerechte und nachhaltige Versorgung sicherstellen."

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