Die Leiterin der ökumenischen Bahnhofsmission in Heidelberg, Miriam Hotel (l.), und ihr Stellvertreter Daniel Knee (r.) im Gespräch mit einer Passantin. Foto: Kreutzer
Von Carsten Blaue
Heidelberg. Eine Bahnhofsmission ist ein offener Ort. Offen für alle und längst nicht nur für Reisende. Jede und jeder kann kommen. Arme, Reiche, Kranke, Einsame. Sie bekommen Hilfe, wenn es irgendwie geht. Ein offenes Ohr oder einen Kaffee bekommen sie auf jeden Fall. "Wir sind wie eine Sozialambulanz", sagt Miriam Hotel, die Leiterin der ökumenischen Bahnhofsmission im Heidelberger Hauptbahnhof. Deren Tür steht immer offen. Auch jetzt in Zeiten der Pandemie, welche die Arbeit der Haupt- und Ehrenamtlichen vor Herausforderungen stellt.
Corona hat allerdings erzwungen, dass man trotz der offenen Tür nicht so einfach reinkommt. Ein mannshoher Aufsteller mit Plexiglasscheiben in einem Holzrahmen und eine rot-weiße Kette versperren den Weg in die Räume der Bahnhofsmission, gleich links von den Schließfächern. Hotel und ihr Stellvertreter, Daniel Knee, wünschen sich sehr, dass sie die Barrieren so bald wie möglich wieder abbauen können. "Und dass bei uns wieder alle Tische besetzt sind", sagt Hotel. "Es ist doch schlimm", seufzt Knee. "Alles ist nur noch ’to go’. Auch im Sozialen. Man darf eigentlich nirgendwo mehr sein, auch nicht hier bei uns."
Die Pandemie erschwert die Betreuung. Aber Hotel und ihr Team sind nicht entmutigt und lassen Besucher und Ratsuchende in Notsituationen dennoch in ihre Räume: "Wir haben keine Anforderungen an unsere Gäste", sagt Knee. Sie müssen die Hausordnung einhalten – und jetzt eben Maske tragen, die Hände desinfizieren, Abstand halten und ihre Kontaktdaten angeben, wenn möglich. So ist das auch im "Biotop der Welten", wie Hotel es ausdrückt, in dem sich auch schon mal der Firstclass-Fahrgast auf der Durchreise neben dem Obdachlosen aufwärmt. So viel Abstand halten zu müssen, tat Hotel von Anfang an weh, schon als sich der erste Lockdown abzeichnete. Da wurde die zentrale Lage der Bahnhofsmission im Hauptgebäude zum Verhängnis, wie die Sozialfachwirtin sagt. Selbst die Kaffeeausgabe war nur nach draußen möglich.
Auch die Masken sind ein Problem bei der Beratung und Hinwendung. "Die Ansprache wird schwieriger", sagt Hotel. "Viele Menschen wollen sich lieber verstecken, und hinter der Maske geht das leichter. Dahinter werden sie quasi ’immer weniger’. Man sieht das offene Gesicht nicht mehr."
Eine weitere Herausforderung war für Hotel eher interner Art. Ihr Team umfasst knapp 30 Mitarbeitende, davon vier Hauptamtliche, zwei junge Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr sowie ein Pool von Ehrenamtlichen, darunter Studenten und Rentner. "Wir mussten unsere Risikogruppen schützen", sagt Hotel. Das hatte Auswirkungen auf die Dienstpläne.
Eine Infektion im Team, die Auswirkung auf die tägliche Arbeit der Bahnhofsmission gehabt hätte, gab es bislang nicht. Über die Träger der Einrichtung – seit 1995 sind das die Trägergesellschaft der Evangelischen Stadtmission Heidelberg und der Heidelberger Caritasverband – könne man bei Bedarf Corona-Tests beziehen, sagt Hotel.
Dankbar ist sie für die große Solidarität der Heidelberger in der Pandemie. So brachte ein Unternehmer vor Weihnachten rund 3000 FFP2-Masken zum Weitergeben vorbei. Auch Sach- und Geldspenden gibt es immer wieder, wobei sich Hotel schon über eine Packung Bio-Kaffee freut: "Wir wollen unseren Besuchern was Gutes anbieten. Zudem ist Nachhaltigkeit ein Auftrag. Daher arbeite die Bahnhofsmission auch mit der Initiative "Foodsharing" gegen Lebensmittelverschwendung zusammen, berichtet Hotel.
Sie und Knee erzählen von Vereinsamenden, Obdachlosen und Frührentnern mit wenig Geld, für die der Bahnhof nach dem Ausbruch der Pandemie so etwas wie der letzte Rückzugsort wurde – sei es, um ein Dach über dem Kopf zu haben oder um noch etwas "emotionale Nähe" und Zuflucht zu finden. Gerade das sei "ein boomender Zweig", sagt Knee. "Im Bahnhof passiert immer was. Und wenn es zu kalt wird, kommen die Menschen eben zu uns", so Hotel. Hört man ihr und ihrem Stellvertreter zu, dann wird schnell klar, wie sehr die Bahnhofsmission gerade auch in diesen Zeiten gebraucht wird. Auch wenn die Zahlen im vergangenen Jahr geradezu eingebrochen sind.
In der Statistik für 2020 stehen insgesamt 9839 Kontakte mit Hilfesuchenden. Das sind über 45 Prozent weniger als 2019. Die Zahl der Menschen, die sich vergangenes Jahr in der Bahnhofsmission aufgehalten haben, ging sogar um über 52 Prozent auf 6049 zurück. Es sind Menschen mit Handicap, in finanziellen Schwierigkeiten, mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen, Migranten, Reisende. Beratungen und seelsorgerische Gespräche gab es sogar mehr als 2019. Ihre Zahl stieg um gut elf Prozent auf 4813. Dafür sank die Zahl der kleinen Hilfen und Auskünfte um die Hälfte, ebenso die klassischen Reisehilfen. Da kommt es dann nicht selten zu "Reisebeichten", wie es Hotel nennt. "Wir sind meist nur kurze Zeit mit den Reisenden zusammen am Bahnsteig. Und viele erzählen uns in diesen wenigen Minuten das Privateste und schütten ihr Herz aus." Hinter der nackten Statistik stehen also immer Schicksale ebenso wie einfache Begegnungen oder die Suche nach einem Stück Menschlichkeit.
Herauszulesen ist aus den Zahlen auch nicht, dass die Weitervermittlung von Ratsuchenden oder Bedürftigen an die richtigen Stellen durch Corona erschwert wurde, selbst wenn es nötig wäre. Oft liegt es aber auch an den Besuchern selbst. Hotel erzählt: "Wir haben zunehmend Gäste im Zustand körperlicher Verwahrlosung, die oft auch unter psychischen Erkrankungen leiden und eigentlich medizinische Hilfe bräuchten, diese aber ablehnen."
Vandalismus ist zudem selbst im eher beschaulichen Heidelberger Hauptbahnhof ein Thema. "Wir haben keinen Polizeiposten", sagt Knee. Anders als in Mannheim, wo es im Hauptbahnhof ein Revier der Bundespolizei gibt. In Heidelberg existiert lediglich ein "Dienstverrichtungsraum", wie es im Polizeijargon heißt. Und daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Eine Sprecherin der Bundespolizei in Karlsruhe sagt auf RNZ-Anfrage, man versuche, dieses Büro so oft wie möglich zu besetzen, und gerade zurzeit seien in Heidelberg immer wieder Unterstützungskräfte aus Karlsruhe für Einsätze zur Gewaltprävention im Einsatz. Aber Gespräche über die feste Besetzung einer Wache im Heidelberger Hauptbahnhof gebe es zurzeit nicht.