Die Lupinenstraße in der Neckarstadt-West ist das Epizentrum des Mannheimer Rotlicht-Milieus. Foto: Gerold
Von Olivia Kaiser
Mannheim. "Es ist eine legale massive Ausbeutung, eine Menschenrechtsverletzung", prangert Richard Heil an. "Und sie passiert in Mannheim, jeden Tag." Der Mediziner spricht von Prostitution. Heil ist Mitbegründer der Initiative "Mannheim gegen Sexkauf" und betreut Frauen, die in der Quadratestadt als Prostituierte tätig sind oder waren. Er weiß: "Die wenigsten machen das freiwillig, sondern aus Zwang oder Armut." Die Corona-Pandemie hat die Situation der Frauen dramatisch verschlimmert.
Aufgrund des Prostitutionsverbots, das am Dienstag jedoch vom Verwaltungsgerichtshof in Mannheim für Baden-Württemberg gekippt wurde, verdienten die Frauen kein Geld mehr. Die Beratungsstelle Amalie, die Prostituierten hilft und sie beim Ausstieg unterstützt, packte sogar Tüten mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln für die Frauen, die sich nicht mehr mit dem Notwendigsten versorgen konnten.
"Die Pandemie hat die prekäre Lage der Frauen sichtbar gemacht", erklärt Heil. Diesen Umstand will er nutzen, um die Bevölkerung zu sensibilisieren – vor allem die Männer. "Die Frauen nehmen Schaden an Körper und Geist", betont er. Oft handle es sich bei den Prostituierten in Mannheim um blutjunge Frauen, die aus Südosteuropa nach Mannheim gebracht werden – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. In Mannheim müssten sie dann bis zu 30 Freier am Tag bedienen, um ihre Schulden für die Reise nach Deutschland und die Miete für ihr Zimmer in der Lupinenstraße abzuzahlen.
Die dramatischen Zustände sind auch Michael Graf, Direktor des Diakonischen Werks Mannheim, bekannt. Die Diakonie ist Träger der Beratungsstelle Amalie. "Ich habe in den zurückliegenden Monaten etwa 60 Anträge auf Corona-Nothilfe von Prostituieren unterzeichnet. Ich schaue weniger auf die Namen. Ich schaue mehr auf die Geburtsdaten. Die Frauen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Sie kommen aus Bulgarien und Rumänien."
Richard Heil macht sich für das sogenannte Sexkaufverbot stark, auch nordisches Modell genannt, weil erstmals in Schweden der Sex auf der Straße unter Strafe gestellt wurde. Für Freier und Zuhälter sind damit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr verbunden, während die Prostituierten nicht kriminalisiert werden. "Zudem werden Ausstiegshilfen gewährt, und die Bevölkerung wird aufgeklärt", sagt Heil. Frankreich, Norwegen, Island und Irland sind Schwedens Beispiel gefolgt. "Deutschland sollte das auch tun, wir gelten mit unserer Gesetzgebung mittlerweile als das Bordell Europas." Für den Mediziner ist das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz keine Verbesserung, sondern spielt den Freiern in die Hände.
Michael Graf sieht das nordische Modell mit einer gewissen Skepsis. Für ihn ist die Prostitution zwar ebenfalls eine markante Menschenrechtsverletzung, doch ob das nordische Modell wirklich eine dauerhafte Verbesserung für die Frauen bringt, ist für den Diakoniedirektor nicht gesichert. "Bei einem Sexkaufverbot besteht die Gefahr, dass das Gewerbe dann mehr im Stillen ausgeübt wird. Das erhöht den Druck auf die Frauen." Das hätten einige Studien zu dem Thema ergeben. Anders als das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche Heidelberg, das sich gegen Prostitution, Menschenhandel und den damit verbundenen käuflichen Sex ausspricht, verweist Graf auf ein Positionspapier, das mehrere Organisationen, darunter auch das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung, verfasst haben. "Verbote verhindern weder Prostitution, noch dämmen sie negative Auswirkungen ein. Wo tatsächlich Zwang und Gewalt eine Rolle spielen, bieten Verbote keinen Schutz", heißt es da.
Michael Graf bringt das sogenannte Dortmunder Modell ins Spiel, das in Sachen Prostitution auf ein Zusammenspiel vieler Stellschrauben setzt: ordnungsrechtliche, gewerberechtliche, gesundheitsrechtliche oder sozialrechtliche Komponenten. "Es ist kein starres Modell, sondern passt sich den Gegebenheiten an", erklärt Graf. Denn auch die Zuhälter und Hintermänner des Gewerbes änderten ihre Strategie und nutzten immer neue Schlupflöcher aus.
Wenn Prostituierte ein Gewerbe anmelden und sich im Rahmen der Legalität bewegen könnten, so Graf, sei es ihnen auch möglich, bei Bedarf staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen. "Schandsteuer" nennt das Richard Heil. Er kritisiert, dass der deutsche Staat durch die Steuereinnahmen von Prostituierten im erheblichen Maß finanziell profitiert.
Über die verschiedenen Ansätze, um die Situation für die betroffenen Frauen zu verbessern, findet am Donnerstag, 8. Oktober, eine Podiumsdiskussion der evangelischen Kirche Mannheim statt, an der auch Michael Graf und Richard Heil teilnehmen. Hinzu kommen Zahra Deilami, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Mannheim, und Helmut Sporer, Oberkriminalrat a.D. aus Augsburg. Er gilt bundesweit als Experte zum Thema und war mehrfach als Sachverständiger und Berater im Rechtsausschuss des Bundestages zum Prostituiertenschutzgesetz tätig.
Und auch wenn der engagierte Mediziner und der Diakoniedirektor bei der Wahl der Mittel unterschiedliche Ansichten vertreten, in einem sind sie sich einig: "Es kann so nicht weiter gehen."