Von Ingrid Thoms-Hoffmann
Heidelberg. "In den Medien ist es en vogue, über Islamophobie zu berichten, während das viel größere Phänomen des Antisemitismus so gut wie komplett ignoriert wird. Und wenn ein Student sagt ‚Ich habe beschlossen, meinen Davidstern nicht mehr auf dem Campus zu tragen‘, ist das eine ganz furchtbare Entwicklung. In einem multikulturellen Land ist es erschreckend, dass ein Jude beschließt, unsichtbar zu werden, weil er den Antisemitismus auf den Fluren und in den Hörsälen seiner Universität fürchtet." Das sagt Frank Dimant, den hierzulande kaum einer kennt. Er ist Vizepräsident der weltweit tätigen jüdischen Organisation B’nai B’rit. Und das Land, aus dem er berichtet, ist Kanada.
Kanada wiederum ist jenes Land, das für Juna Grossmann der Sehnsuchtsort ist, sollte es für sie in Deutschland noch enger werden. Die 42-jährige gebürtige Ost-Berlinerin hat ihr erstes Buch geschrieben. In "Schonzeit vorbei" berichtet sie "über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus". Es hätte ein gutes Buch, ein berührendes, ein lehrreiches, ein politisches Buch werden können. 1453 erfasste antisemitische Straftaten sind eine aufrüttelnde Basis. Ebenso wie die Tatsache, dass etwa jeder dritte Deutsche ausländerfeindliche Positionen vertritt.
Was Juna Grossmann dagegen aus ihrem judenfeindlichen Alltag berichtet, das ist zum Großteil das dümmliche Geschwätz von noch dämlicheren Menschen. So wenn sie Besucher des Jüdischen Museums, ihrem Arbeitsplatz, zitiert, die aufgefordert werden, große Taschen oder Mäntel abzugeben: "Das ist jetzt also die Rache, dass die Deutschen so viele Juden umgebracht haben, dass Sie uns in Ihrem Museum Vorschriften machen."
Oder wenn sie die absurde Verschwörungstheorie eines Kollegen nach dem 11. September 2001 kolportiert: "Das waren doch die Juden". Nicht weniger steil ihre eigene These, dass man in Deutschland ("Heimatland" will sie nicht mehr sagen), "endlich wieder seinen Antisemitismus offen leben kann - solange man kein Parteibuch der NPD oder AfD hat". Das ist ärgerlich, weil sie damit ihr berechtigtes Anliegen konterkariert und auch ihre fundierten Ansätze.
Regelmäßig untersucht das Zentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig, wie sich autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland seit 2002 entwickeln. Die Ergebnisse zeigen, dass antisemitische Einstellungen insgesamt zwar leicht rückläufig sind, dass aber ihre Vertreter eher bereit sind, Gewalt anzuwenden. "Das heißt, die Wahrnehmung einer Zunahme des Antisemitismus hängt nicht zusammen mit einer Zunahme von Antisemiten, aber mit einer zunehmenden Gewalt- und Handlungsbereitschaft von Antisemiten." Keine tröstliche Erkenntnis.
Dass "Jude" auf deutschen Schulhöfen wieder als Schimpfwort gebraucht wird, ist ungeheuerlich, ebenso, dass in Berlin 2014 während einer Anti-Israel-Demonstration zum Al-Quds-Tag Hunderte Menschen auf die Straßen gingen und dass dabei skandiert wurde: "Juden ins Gas". Natürlich berichtet Juna Grossmann von dem Überfall auf einen jungen Mann mit Kippa in Berlin. Benennt als eine Säule des offenen Antisemitismus den "Sündenfall" des FDP-Politikers Möllemann, der sich 2002 einseitig gegen Israel positioniert hatte.
Aber darauf soll die Reaktion von Politik und Medien gleich Null sein? Ein Blick in die Zeitungen oder in den Fernseher würde genügen. Die Politik leugnet nicht das Anwachsen des Antisemitismus und die Medien beschäftigen sich eingehend damit. Vor genau einem Jahr installierte die Bundesregierung einen Antisemitismus-Beauftragten (wird von der Autorin abgetan, dass jetzt "noch mehr Papier produziert" werde). Sieben Bundesländer (darunter Baden-Württemberg und Bayern) folgten. Verzicht übten allerdings Länder wie Berlin, Bremen oder Sachsen.
Was sie bemängelt ist, dass "der Kampf gegen Antisemitismus, die Aufklärung, Beratung, Betreuung der Opfer, keinesfalls sichergestellt" ist. "Heute, im Jahre 2018, in dem die Täter immer mehr zu Opfern gemacht werden, findet sich in den Zeitungen fast kein Bericht mehr über das Kriegsende, in dem die Bombardierungen deutscher Städte nicht als ungerechtfertigt und scheinbar grundlos dargestellt werden". Das sind Sätze, die aus ihrer Gefühlslage verständlich, aber schlicht falsch sind.
Juna Grossmann erwähnt durchaus die Kundgebungen in Berlin oder anderen Städten, wo Tausende von Menschen ihre Solidarität mit Juden zeigen. Aber sie negiert das sofort wieder, weil ja erst der Zentralrat zu Demonstrationen aufrufen musste. Sie schreibt, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland kleiner werden, schreibt aber nicht, dass die jüdische Weltbevölkerung mit 14,2 Millionen Juden sich allmählich dem Niveau annähert, das sie vor der Shoa (16,6 Millionen) hatte und dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland heute mehr Mitglieder verzeichnen, als noch vor 30 Jahren (etwa 100.000 ). Schätzungen gehen davon aus, dass weit über 200.000 Juden hier leben, vor dem Holocaust waren es etwa 500.000.
Keine Frage: Der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus muss geführt werden. Deshalb sollte sich die engagierte Jüdin das mit den gepackten Koffern und dem Auswandern nach Kanada doch noch einmal gründlich überlegen. Auch unter dem Aspekt, dass das kanadische Recht keinen Paragrafen der Volksverhetzung kennt.
Nur von einem deutschen Gericht konnte deshalb 2007 ein "rassistischer Hetzer und Agitator" verurteilt werden. Ernst Zündel hatte von Kanada aus via Internet seine "Germania-Rundbriefe" verbreitet. Darin wetterte er gegen Israel als "Zufluchtsort geistigen Weltgangstertums" und leugnete die Existenz von Gaskammern und den Massenmord an den Juden in deutschen Vernichtungslagern.
Berührend wirkt bei Juna Grossmann ihr Appell an die Öffentlichkeit: "Steht zu uns, helft uns, greift ein!" Und es ist keine leere Phrase, wenn der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster sagt: "Zur heutigen deutschen Realität gehört, dass jüdische Eltern ihren Kindern beibringen, nach der Schule ihre Kippa abzunehmen". Da wird die Angst vor dem alltäglichen Antisemitismus spürbar.
Info: Jana Grossmann stellt am Sonntag, 27. Januar um 17 Uhr im Heidelberger DAI, Sofienstraße 12, ihr Buch vor: "Schonzeit vorbei".