Von Sebastian Riemer
Stefan Schöbel ist kein netter Mann. Er flucht gerne. Über seine Brille, die stets droht, vom äußersten Ende der Nasenspitze herabzufallen, beäugt er neue Kunden skeptisch. "Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich", schallt es schroff durch seinen Laden. Der ist gefliest, damit keine zu große Behaglichkeit aufkommt. Der Buchhändler und Antiquar hat im Laufe der Jahrzehnte viele empfindsame Erstsemesterstudenten eingeschüchtert.
Natürlich ist all das nur auf den ersten Blick wahr. Denn wenn Stefan Schöbel rauchend vor seinem Laden in der Plöck sitzt, vergehen keine fünf Minuten, ohne dass Freunde, Bekannte oder jahrzehntelange Kunden vorbeikommen. Der 65-Jährige blickt dann von seinem 20 Zentimeter hohen Schemel hoch, seine Miene hellt auf, er lächelt, erhebt sich - und das Schäkern beginnt. Schöbel liebt das. "Das hier ist die erste Reihe in der Plöck, eine wirklich exklusive Lage."
Das Porträt
Seit 40 Jahren verkauft Stefan Schöbel in der Plöck Bücher. Dabei wollte er nie nach Heidelberg, in "dieses weltbekannteste Dorf", wie er sagt. Der gebürtige Bamberger wuchs in Ravensburg auf. Nachdem er zwei Mal durchs Abi gefallen war, den Wehrdienst absolviert und ein Jahr als Gabelstaplerfahrer gearbeitet hatte, ergatterte er bei einem Buchhändler in Bamberg eine Ausbildungsstelle. Einen Tag vor Antritt der Lehre kam der Anruf: Er brauche nicht zu kommen. Eine Begründung bekam er nicht. "Die haben eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz gestellt, das war damals so üblich." Schöbel war seit 1972 aktives Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), als Bundeswehrsoldat war er auf Demos mitgelaufen - in Uniform. Jahrzehnte später erfuhr er, dass der Militärische Abschirmdienst ihn anderthalb Jahre lang beobachtet hatte.
Hatten seine kommunistischen Umtriebe ihm in Bamberg eine Tür vor der Nase zugeschlagen, öffneten sie ihm in Heidelberg eine andere: Am 1. Dezember 1976 trat der damals 25-Jährige seine Stelle in der Buchhandlung des Brückenverlags an, damals ein paar Häuser weiter als Schöbels heutiger Laden. Sie gehörte zur DKP-nahen Collectiv-Kette. "Wir waren sozusagen technisches Personal für den Büchertausch mit den sozialistischen Brüdern in der DDR und der ganzen Welt", sagt Schöbel. Nach fünf Jahren im Job machte er die Buchhändler-Prüfung - und hatte dem kapitalistischen System ein Schnippchen geschlagen.
Heute nennt er sich unverdrossen "frei schwebender Kommunist". Das kapitalistisch-imperialistische Wirtschaftssystem gebe es schließlich noch immer, "auch wenn die ,ruhmreiche Sowjetunion’ heute genauso kapitalistisch ist". Natürlich wählt er links, aber er ist da auch flexibel. "Manche Themen hier in Heidelberg sehe ich eher wie die Bürgerlichen", sagt Schöbel, der seit 22 Jahren in Rohrbach lebt. Und Angela Merkel ist für ihn die Einzige, die Europa noch zusammenhält. "Und natürlich hat sie mit der Öffnung der Grenze für die Flüchtlinge die richtige Entscheidung getroffen."
Stefan Schöbel war nie verbohrter Ideologe, er will immer alle Seiten einer Geschichte betrachten. "Mir war die DKP-Presse ebenso zu einseitig wie ARD und FAZ." Also fuhr er 1979 in den Iran, um sich selbst ein Bild von der Revolution zu machen - im Wortsinne: Mit der Kamera reiste er durch das Land. Als er ein Foto von Frauen auf der Straße machte, standen plötzlich die Revolutionswächter vor ihm, die Maschinenpistolen im Anschlag. "Ich musste um mein Leben reden - auf Englisch, was ich wirklich nicht gut kann." Sie ließen ihn gehen - und Schöbel stürzte sich ins nächste Abenteuer: Als er vom Putsch in der Türkei hörte, fuhr er spontan rüber, "um sich dort mal umzusehen".
Seit einem Vormittag vor 13 Jahren ist das mit dem Reisen schwieriger geworden. Schöbel saß damals im "Hörnchen" in der Unteren Straße, las Zeitung. "Und auf einmal merkte ich, dass mir der Tee aus dem Mund läuft." Ein Schlaganfall - die Folge eines Eingriffs am Herzen. Seitdem schafft er höchstens zwei Romane im Jahr. "Ich kann mich schlecht auf lange Texte konzentrieren." Nach dem Schlaganfall konnte er kaum sprechen, musste den Namen aller Alltagsgegenstände neu lernen, trug jede Vokabel in ein Notizbuch ein. "Dass ich wieder sprechen kann, ist eine Sensation", sagt er stolz. "Ich bin schon ein Tier." Er ärgert sich dennoch, wenn ihm mal ein Wort nicht gleich in den Sinn kommt. "Scheiß Schlaganfall", zischt er dann.
Die plötzliche Attacke auf seine Gesundheit war hart, doch er konnte etwas tun. Schon ein Vierteljahrhundert vorher, im Jahr 1978, hatte Stefan Schöbel eine Katastrophe ereilt, der er hilflos zusehen musste. Sein Sohn Nikolai starb - mit zweieinhalb Jahren. "Er hatte ein Neuroblastom, das nach und nach die Lunge zudrückte." Die Beziehung zu Eva, der Mutter des Kindes, hielt nicht.
Später bekam er mit Juliane, die er 1986 heiratete, seine Tochter Julia. Sie ist inzwischen 34 - und Lehrerin. Seinen Laden wird sie nicht übernehmen. Wenn Schöbel aufhört, ist die lange Geschichte seines Antiquariats und Buchhandels wohl vorbei. "Ach, fünf Jahre mach’ ich das bestimmt noch", sagt der 65-Jährige. Schöbel macht gerne weiter - aber er muss auch. Denn kurz nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, als die DDR gerade Geschichte wurde, kaufte das Ehepaar Schöbel die Buchhandlung vom Brücken-Verlag. "Und damals habe ich einen großen Fehler gemacht: Ich hab’ aufgehört, in die Rentenkasse einzuzahlen."
Die Ehe zerbrach, der Buchladen blieb. Schöbel liebt seine Arbeit. Der schönste Moment seines Tages ist morgens, wenn neue Bücher kommen: "Da kriege ich beim Auspacken jedes Mal große Kinderaugen." Während er früher, als Angestellter, Berge von DDR-Büchern und russische Literatur an die linke Szene verkaufte, musste er nach dem Fall der Mauer als Selbstständiger umdenken: Heute lebt er hauptsächlich von Unis, Schulen und Rechtsanwälten, die er vom Bodensee bis Berlin beliefert. Noch immer verkauft er Neuware ebenso wie Antiquarisches. Und natürlich merkt man dem Sortiment das linke Erbe noch an: Viele Sachbücher zu Soziologie, Philosophie und Politik, aber auch Kolonialismus, Kuba und Dritte Welt hat Schöbel im Angebot. "Aber eine meiner besten Abteilungen heute sind die Kinderbücher", sagt Schöbel. Da legt er Wert auf originelle, aufwendig gestaltete Ausgaben.
Und Stefan Schöbel verlegt seit ein paar Jahren selbst Bücher mit seinem eigenen, kleinen Verlag. Dabei macht er, was ihn interessiert - und die Bandbreite ist groß. So folgte auf den Band "Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933" einer seiner größten Erfolge: Das 2014 erschienene Werk "Menschen - Augen - Blicke", einem Buch mit Schwarz-Weiß-Bildern des 2013 verstorbenen Fotografen Thaddäus Zech aus der Traditionskaschemme "Weinloch" in der Unteren Straße, Schöbels Stammkneipe. "Ich bin Teil des Gruselkabinetts im Weinloch", sagt er grinsend, zwei bis drei Abende in der Woche ist er dort.
Stefan Schöbel ist ein warmherziger, unterhaltsamer und tatsächlich doch ein sehr netter Mann. Und sogar das mit der Freundlichkeit Fremden gegenüber ist in den letzten Jahren besser geworden. "Früher war ich ein echter Kotzbrocken", sagt er selbst. Nach drei Stunden in seinem Laden kann man sich das nicht mehr vorstellen.
Info: Am heutigen Samstag feiert Stefan Schöbel in seinem Laden, Plöck 56a, ab 14 Uhr bis in den Abend Jubiläum - mit Lesungen und Musik. Eintritt frei.