"Gerade leben wir alle in Bubbles, die permanent aufeinanderprallen"
Patrice will aktuell und zeitlos zugleich klingen. Sein neues Album "9" ist zu großen Teilen auf Jamaika entstanden.

Von Daniel Schottmüller
Er gilt als Deutschlands erfolgreichster Reggae-Künstler. Dabei kann Patrice so viel mehr. Auch auf seinem Album "9" (ab 3. November erhältlich) mixt der 44-Jährige wieder fröhlich die Genres. Im RNZ-Interview erzählt der "Soulstorm"-Sänger, wie er von seiner Wahlheimat Jamaika aus auf den aktuellen Rechtsruck blickt, und was die Produktion seiner neuen Scheibe mit Hannibal, Burna Boy und Frittenfett zu tun hat.
Patrice, man munkelt, dass du die letzten sieben Jahre in einem selbstgebauten Studio auf Jamaika an neuen Sounds getüftelt hast. Stimmt das?
So halb (lacht). Die meiste Zeit hab ich in der Hauptstadt gelebt und nicht als Eremit in der Einsamkeit. Aber es stimmt, dass es mich immer schon aufs Land gezogen hat. Irgendwann ist dann die Idee entstanden, in den Hügeln über Kingston ein Studio mit coolem Vintage-Equipment zu bauen, um dort einen Sound zu kreieren, wie man ihn von alten Platten kennt. Dabei wollten wir, dass alles, was an Energie in das Gebäude reinfließt, direkt von dort kommt und vor Ort aufrechterhalten werden kann – eigener Strom, eigenes Wasser und so weiter. Wir haben dann mitten im Wald bei null angefangen. Sieben Esel haben geholfen, das Baumaterial in dieses unwegsame Gelände zu bringen. Ganz fertig sind wir noch nicht, aber einige der neuen Songs sind bereits dort entstanden.
Du selbst bist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Wie unterscheidet sich das Leben in Deutschland von dem, was du auf Jamaika täglich erlebst?
Wenn man woanders lebt, bekommt man einen anderen Blick auf Deutschland. Auf einmal schätzt man Dinge, die man für selbstverständlich erachtet hat. Zum Beispiel wird in Deutschland viel über die Bahn gemeckert, aber eigentlich ist der Nahverkehr hier sehr viel besser organisiert als fast überall sonst. Das Gleiche gilt für das Gesundheitssystem. Mittlerweile denke ich: Hey, wenn man Menschen aus einem anderen Umfeld die Chance geben würde, sich in Deutschland ein Business aufzubauen, würden sie wahrscheinlich krass performen! In Jamaika dauert alles schon alleine dadurch sehr viel länger, dass hier die Basics fehlen. Wenn man die alltäglichen Widerstände berücksichtigt, mit denen die Jamaikaner zu kämpfen haben, dann sind sie sogar hocheffizient. Sie müssen früh aufstehen, sich alles selbst organisieren und im Vergleich auch viel mehr Geld ausgeben: Auf der Insel kosten die Dinge dreimal so viel wie in Deutschland.
Welche kulturellen Unterschiede fallen dir zwischen den Ländern auf?
Jamaika hat eine enorm reiche Kultur! Dabei findet ein direkter Austausch auf täglicher Basis statt. Es kann sein, dass jemand einen Song schreibt, der viral geht, und noch am gleichen Tag entsteht ein TikTok-Tanz dazu, den sofort alle nachtanzen. In Deutschland ist das alles behäbiger. Hier wird tendenziell immer nach den Charts geschielt. Es entsteht so gut wie nichts, das einfach nur aus sich heraus cool ist. Das hat auch damit zu tun, dass Musik in Deutschland eher als Konsumgut angesehen wird – nach dem Motto: "Ich mag es schon, ab und zu Musik zu hören ..." Musik wird als nettes Add-on betrachtet und nicht als etwas, wovon das eigene Leben abhängt.
Sind die jamaikanischen Roots-Reggae-Einflüsse auf deinem neuen Album besonders stark ausgeprägt?
Im Gegenteil (schmunzelt). Irgendwann ist mir aufgefallen: Ich mache immer etwas Konträres zu dem Ort, an dem ich gerade bin. Meine erste EP klingt zum Beispiel Reggae-lastig, wurde aber in Hamburg aufgenommen. Das zweite Album, das ich komplett auf Jamaika eingespielt habe, klingt dagegen eher nach Soul. Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer etwas zur Konversation beitragen möchte. Ich will selbst etwas sagen und nicht nur den Leuten nachsprechen, mit denen ich gerade zu tun habe. Klar, habe ich in den letzten sieben Jahren viele Roots-Reggae-Sachen aufgenommen, aber am Ende bin ich nach Dakar gereist und hab dort mit zwei coolen Produzenten noch mal einen ganz eigenen Sound entdeckt.
Wie muss man sich euer gemeinsames Songwriting vorstellen?
Einige Songs, die ich auf Jamaika an der Gitarre geschrieben oder auch schon komplett ausproduziert hatte, haben wir noch mal komplett überarbeitet. Es kam aber auch vor, dass die beiden eine Art Beat gebaut haben, zu dem wir dann gejammt haben. Gerade am Ende des Entstehungsprozesses tut das Spontane sehr gut. Dieses "first take"-Gefühl sollte immer Platz auf einem Album haben.
Apropos spontan: Du hast in den vergangenen Jahren spontan organisierte Sonnenaufgangskonzerte in Städten wie Berlin oder Paris gespielt. Jetzt heißt deine erste Single "Sun Is Out". Gibt es da einen Zusammenhang?
Wenn ich ehrlich bin, sind meine Texte immer von Naturmetaphern durchzogen: "Soulstorm", "Sunshine", "Clouds" … "Sun Is Out" reiht sich in diese Tradition ein. Im Text geht es darum, dass das Leben von Neuem beginnt. Die aufgehende Sonne taucht alles in ein neues Licht. Das passt zu dem großen Thema, das mich seit meiner Geburt begleitet: Ich kam an den Tag auf die Welt, als mein Großvater gestorben ist. Mein vollständiger Name lautet Gaston Patrice Babatunde Bart-Williams. Der afrikanische Begriff Babatunde steht dabei für Wiederkehr – in meinem Fall die Wiederkehr des Vaters im Sohn. Diesem Grundthema der Wiedergeburt, der Renaissance habe ich mich auf all meinen Alben gewidmet. Mein erstes, "Ancient Spirit", hätte eigentlich sogar "Babatunde" heißen sollen – wir hatten aber Angst mit so einem Titel in die Weltmusik-Ecke abgeschoben zu werden, und haben das noch geändert. (lacht)
Hintergrund
ZUR PERSON
Gaston Patrice Babatunde Bart-Williams wurde am 9. Juli 1979 in Köln geboren. Sein Vater stammt aus Sierra Leone, seine Mutter aus Deutschland. Aufgewachsen in einem multikulturellen Haushalt, lernte Patrice auch als Songwriter, Brücken zu
ZUR PERSON
Gaston Patrice Babatunde Bart-Williams wurde am 9. Juli 1979 in Köln geboren. Sein Vater stammt aus Sierra Leone, seine Mutter aus Deutschland. Aufgewachsen in einem multikulturellen Haushalt, lernte Patrice auch als Songwriter, Brücken zu schlagen. Aus Reggae, Soul, Hip-Hop, Rock, Blues, R’n’B und Funk formte er einen Stil, der ihn seit dem Erscheinen seines Debütalbums "Ancient Spirit" (2000) zum internationalen Star machte. Patrice hat unter anderem Features mit Joy Denalane, Selah Sue, Max Herre, Samy Deluxe, Cro und Curse aufgenommen und arbeitet auch als Musikproduzent. Beim Besuch des damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama spielte der Kölner vor 200.000 Menschen an der Berliner Siegessäule.
Auf deiner zweiten Single "Stamina" singst über den kathargischen Feldherren Hannibal. Wie kam es dazu?
Ein krasseres Statement als Hannibal kannst du nicht setzen: Der Dude reitet auf Elefanten über die Alpen und steht auf einmal vor den Toren Roms. Das muss so "out there" gewesen sein – die Römer hatten solche Tiere ja noch nie gesehen. Mit Hannibal eröffnet sich auf einmal von außen eine komplett neue Perspektive. Für mich ist diese Episode eine Endlevel-Metapher für Stärke.
Was unterscheidet dieses Album insgesamt von deinen bisherigen?
Das davor, "Life’s Blood", war eher um eine Single herum gebaut. "9" fühlt sich jetzt wieder homogener und konzeptueller an. Ehrlich gesagt, versuche ich immer etwas zu machen, was zugleich zeitlos und aktuell ist. Ob mir das gelungen ist, wird sich erst in ein paar Jahren zeigen. Aber gerade fühlt es sich sehr fresh an. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass der Afrosound inzwischen Mainstream geworden ist. Das spielt mir natürlich gut rein. Es gibt auf "9" aber auch Reggae, Soul, Rap und Rock zu hören. Alles, was ich im Entstehungsprozess selbst gerne höre, fließt in meine Alben mit ein.
Du sprichst den Afrosound-Boom an. Überrascht dich, dass Künstler wie Burna Boy in den USA und Europa gerade einen solchen Hype erleben?
Dass es plötzlich so schnell geht, hat mich doch überrascht, ja. Der Erfolg ist aber mehr als verdient. Wir haben ja schon vor Jahrzehnten Afrobeats gepusht und in Köln entsprechende Partys veranstaltet. Das Burna Boy jetzt Riesenstadien in den USA füllt, freut mich. Nicht nur, weil er cool und charmant ist, sondern weil afrikanische Musiker generell viel zu lange als rückständig angesehen wurden. Dabei passiert gerade in Nigeria kulturell so viel. Es geht dabei nicht nur um Burna Boy oder Wizkid. Auch die Filmindustrie arbeitet dort im internationalen Vergleich auf einem wirklich hohen Level. In Ghana entstehen genauso spannende Sachen. Und trotzdem ist das Ganze von einer großen Bescheidenheit geprägt – obwohl die Leute in Afrika oft sechs, sieben Sprachen sprechen und musikalisch sowieso keiner mit ihnen mithalten kann.
Leider entwickelt sich nicht alles in eine positive Richtung: Schon in der ersten Zeile deines ersten Lieds singst du von einer "time of tension". Bist du politisch interessiert?
Ich fange bei der Philosophie an und komme dann erst zur Politik. Generell glaube ich aber, dass jede Strömung einen Grund hat und es wert ist, dass man sich mit ihr beschäftigt. Entscheidend dafür sind gute Informationen. Gerade leben wir alle in Bubbles, die permanent aufeinanderprallen. Diesem Konflikt wird Luft zugefächelt von Plattformen, denen es nur um Userzahlen geht, ohne dass sie sich in irgendeiner moralischen Verantwortung sehen. Das müssen wir in den Griff bekommen. Denn grundsätzlich sind wir Menschen gar nicht so verschieden. Wir wollen alle sehr ähnliche Dinge und denken nur, dass wir uns nicht verstehen, weil wir unsere Meinungen auf unterschiedliche Informationen stützen. Hätten wir alle Zugang zu neutralen Informationen und Bildung, hätten wir eine andere Welt.
Stattdessen ist im Moment ein starker Rechtsruck zu beobachten.
Alles entwickelt sich in eine nationalistische Richtung. Auch eine Diversifizierung von Gedanken wird kaum noch zugelassen. Was nicht ins eigene Gedankenbild passt, wird sofort abgeschossen. In so einem Klima der Angst kann Demokratie aber nicht florieren. Du musst in den Austausch – anders geht es nicht. Deshalb finde ich es gefährlich, wenn immer alles weggecancelled wird, was einem Unbehagen bereitet. Wir müssen lernen, mit Leuten umzugehen, die anders ticken. Beispielhaft ist da die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger: Gerade weil man sich im Dialog behaupten musste, hat diese Bewegung so viel Stärke und Charakter entwickelt. In dem Song, den du ansprichst, singe ich "in this time of tension, so much time to waste" – damit meine ich, dass wir zu viel Energie auf Dinge verwenden, die nicht essenziell sind. Wir sind sehr dramatisch geworden. Wenn aber alles als unglaublich schlimm eingeschätzt wird, fällt am Ende runter, was wirklich wichtig ist.
Wirklich wichtig scheint dir die Beziehung zur Umwelt zu sein. Äußert sich das auch außerhalb deines Selbstversorger-Studios?
Mittlerweile touren wir als Band nur noch mit zwei E-Autos und einem Anhänger. Das hat uns als Gemeinschaft enger zusammengebracht. Wir sehen auch von Plastik ab und machen viel, um unseren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Eine Besonderheit der neuen Platte ist zum Beispiel, dass sie als erste weltweit als Bio-Vinyl erscheinen wird. Das ist eine Alternative zu Vinyl, die aus altem Frittenfett hergestellt wird. Frittenfett ist ja sozusagen deutsches Erdöl. Und das Ergebnis klingt verblüffend gut. In meinen Augen geht es bei solchen Entscheidungen gar nicht mehr ausschließlich um Nachhaltigkeit, sondern um Fortschritt.