Theodor W. Adorno trat in so manches Fettnäpfchen
Vom Busenattentat auf einen Keiler: Anekdotisches über den Komponisten und Musikphilosoph.

Von Michael Santak
Frankfurt. Sein Leitbild war die gezähmte Wildsau von Ernsttal im Odenwald. Beim Anblick eines roten Kleides vergaß das Tier seine Gezähmtheit und nahm die aufreizend rot gekleidete Dame in wildgewordener Freiheit auf den Rücken. Theodor W. Adorno identifizierte sich zeitlebens gern mit Tieren. Er trug im familiären Kreis den Kosenamen "Nilpferd" und wählte das Pseudonym "Hector Rottweiler", um seinen Abscheu vor dem Jazz – und mehr noch vor dem Jazz-Publikum – publik zu machen. Doch als Privatmensch handelte er zuweilen wie ein wildgewordener Keiler.
Der am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geborene Philosoph und Komponist schrieb bereits mit 19 Jahren in einem Wedekind-Essay über das Streben nach Schönheit und Wahrheit: "Der Eros flieht aus der Welt. Die Kultur wird zur Zivilisation. Das Ich wird entselbstet, denn es hat den Eros verloren."
Da in dem jugendlichen Schwärmer bereits der spätere Dialektiker erwacht war, fährt Adorno fort: In Wedekind sei "die Liebe selbst dialektisch geworden, und weil sie ihre Herkunft vom Göttlichen auch im Kot noch gebietend verkündet, wird sie zum Fleischgeist." Die schöne Unanständigkeit sei der Präzedenzfall der Dialektik: "Erotik ist weder ganz individuell noch rein allgemein, sowohl vom Trieb als auch vom Geist gezeichnet."
Die so schöne wie unanständige Lebensmacht der Erotik brach im November 1942 abrupt in die symbiotische Ehe von Theodor und Gretel (der "Giraffe") ein. Das unverbesserliche Kind von 39 Jahren musste seinen Eltern über "eine Zeit der allerschwersten inwendigen Krise" berichten, die "den allerintimsten Gefühlsbereich betrifft".
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Genaueres wird von dem "bis in die innersten Schichten Erschütterten" nicht über seine Affären verraten, nur so viel, dass "es sich um etwas Erotisches, mich Betreffendes handelt, dass aber die Beziehung von Gretel und mir von einer solchen Art ist, dass sie auch einer solchen Erschütterung fest standhält".
Die ungeheuerlichen Gefühlsverwirrungen während des Exils in Los Angeles hätten Adornos Leben zerstören können, "wären nicht", wie der Philosoph seiner Mutter schrieb, "Gretel und Max mit einer nicht zu beschreibenden Liebe und einem wahrhaft unverdienten Verständnis mir zur Seite gewesen." Zu dieser Zeit bereitete Max Horkheimer gemeinsam mit Theodor W. und Gretel Adorno die "Dialektik der Aufklärung" vor. 1947 erschienen, gilt sie als wichtigstes Werk der "Frankfurter Schule".
Letztlich, so schrieb Adorno weiter in dem Brief an die Mutter, habe ihn vor allem seine "dickhäutige Nilpferd-Natur" davor bewahrt, ganz und gar Opfer des bodenlosen Kummers seines Liebesleids zu werden. Diese "grenzenlose Fähigkeit zum Leiden, zum Hingerissen-Werden, zum sich Verlieren" sei es, die ihn beim Philosophieren "zu etwas Besonderem" qualifiziere, die aber nicht "mit dem vereinbar ist, was sich der gesunde Menschenverstand unter einem Philosophen vorstellt".
Im Jahr 1962 verblüffte der mittlerweile 59-jährige Freigeist sein Publikum in der Wiener Universität mit der Behauptung, "dass die Sexualität, die schon gar nicht mehr ein bisschen pervers ist, keine Sexualität mehr ist". Die heutige Sexualität sei ein falscher Zauber, mit dem man das Lustprinzip so bändige, dass es sowohl um sein anarchistisches als auch sein gesellschaftskritisches Potenzial gebracht werde.
Die Unanständigkeit sei ausgeschaltet, der neue keimfreie Sex sei Folge einer noch tieferen Verdrängung mit neuen Tabus, die nur die schlimmsten Folgen haben könnten, und zwar für die Gesellschaft, denn wer sich den gesellschaftlichen Normen nicht füge, müsse harte Konsequenzen fürchten. Sozialen Anstoß errege, wer Sex nicht richtig wichtig oder zu wichtig nehme, denn weder prüde Asexualität noch allzu große Leidenschaft seien der Arbeitsmoral zuträglich.
Adornos These vom eingeschrumpften Eros folgte seiner grundlegenden Intuition, dass überall ein herrschsüchtiger Intellekt am Werk sei, dem es vor dem Infantilen, Animalischen und Ekstatischen, vor der "Kindischkeit" und Ungezähmtheit graue, weil die abwägende Rationalität der erwachsenen Aufgeklärtheit, der kulturschöpferischen Sublimierung und triebsublimierenden Kultur alles Körperliche und Natürliche fürchte.
Gedanken, die geradewegs zum berühmt-berüchtigten "Busenattentat" von 1969 in der Frankfurter Universität geführt haben mögen. Dort entblößten sich drei Studentinnen vor Adorno und versuchten, Rosen- und Tulpenblätter auf sein kahles Haupt zu streuen. Der Philosoph verließ daraufhin unter allgemeinem Gelächter den Saal. Wenige Monate später starb er während eines Urlaubs in der Schweiz.
Robert Gernhardt, Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule, reagierte mit einem langen Gedicht im Wilhelm-Busch-Stil auf das Busenattentat: "Denn noch schrieb man Neunundsechzig / Und da sann man unverdrossen / Mal auf Go-ins, mal auf Possen, / Um die Profs zu demaskieren / Und der Welt zu demonstrieren, / daß sie unter den Talaren / Machtgeil, stur und muffig waren."