Was ist dran am Mythos Werwolf?
Seit Jahrhunderten erzählt man sich Grusel-Geschichten. Alles nur Aberglaube oder gehen die Horrorgeschichten auf ernsthafte Krankheiten zurück?

Werwolf als popkulturelles Phänomen: Heidi Klum als
Michael-Jackson-Wiedergänger. Foto: dpa
Von Christian Satorius
Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?" Die Frage ist uns wohlbekannt, ebenso wie die schauerliche Antwort. Germanisten streiten bis heute, ob es das Rotkäppchen der Gebrüder Grimm hier mit einem Werwolf zu tun hat. Zwar kann der Wolf sprechen und hat sich auch die Kleidung der Großmutter übergestreift, aber andererseits fehlen vielen Forschern wichtige Werwolfattribute. Schließlich ist es nichts Außergewöhnliches, dass Tiere im Märchen sprechen können und zuweilen auch ordentlich gekleidet sind – man denke nur an den Gestiefelten Kater. Was aber macht ihn denn dann aus, den typischen Werwolf?
In Hollywood braucht es einen gruselig großen Vollmond, um einen Menschen in eine reißende Bestie zu verwandeln – im Gegensatz zu vielen Sagen und Mythen. Bei den Germanen etwa "geschieht die Verwandlung vorzugsweise durch Wolfshemden, ’ulfahamir’", konstatiert der Germanist und Werwolfkenner Wilhelm Hertz. Sogar eine ungefähre Altersangabe der Erzählung lässt sich dem Fachmann zufolge anhand der Bekleidungsstücke vornehmen. "Noch in unseren Tagen", schreibt Hertz 1862, "sind Sagen vom Werwolf, besonders im Norden und Osten Deutschlands, lebendig. Die Verwandlung geschieht vorzugsweise durch einen Gürtel, der an die Stelle des alten Wolfshemdes getreten ist."

Jacob (Taylor Lautner) und Bella (Kristen Stewart) in einer Szene des Films "Eclipse - Biss zum Abendrot" an (undatierte Filmszene). Nun kommt die langersehnte dritte Folge der "Twilight"-Serie in die Kinos. Bella muss sich langsam mal entscheiden: Sowohl Vampir Edward als auch der attraktive Werwolf Jacob kämpfen um ihre Liebe. Die Feindschaft ihren Familien wirkt aber so belastend, dass die alltäglichen Probleme Bella vergleichsweise unbedeutend erscheinen - und dies, obwohl das Ende ihrer Schulzeit immer näher rückt. Foto: Concorde Filmverleih
Während der Gestaltwandel mittels Gürtel also neueren Datums ist, lassen sich die Wolfshemden Hertz zufolge bis zu den "ulfhednar" (Wolfsgewandige) genannten Elitekämpfern der Wikingerzeit zurückverfolgen, wohl sogar bis zum Schamanentum und den Initiationsriten der grauen Vorzeit. Legt der Werwolf seinen Gürtel oder auch sein Wolfsgewand ab, wird er meist augenblicklich wieder zum Menschen, "trägt nun also seine Wolfshaut nach innen", wie es in einigen Sagen so schön heißt. Der Zauber lässt sich also keineswegs durch einen Biss auf andere übertragen, so wie es im Hollywoodkino oft zu sehen ist. Werwölfe verschlingen ihre Opfer oder zerfleischen sie, aber sie infizieren sie nicht.
Somit müssen auch jene wissenschaftlichen Erklärungsversuche scheitern, die hiesige Werwolfmythen auf die Tollwut zurückführen wollen. Diese Virusinfektion kann durchaus Tier und Mensch gleichermaßen befallen und in kurzer Zeit zum Tod führen. Selbst heute noch sterben nach WHO-Angaben weltweit über 50.000 Menschen im Jahr an dieser oft durch Tierbisse übertragenen Wutkrankheit. Bereits kleinste Umweltreize können bei den Erkrankten eine regelrechte Raserei auslösen, von der ja in Sagen die Rede ist. Allerdings sprechen Werwölfe auch in vielen alten Geschichten – und gerade das ist Tollwutkranken aufgrund der entstehenden Rachenlähmung unmöglich.
Auch der Speichel, der sich als Schaum vor dem Mund des Infizierten sammelt, wird in Sagen und Mythen nicht erwähnt. Ebenso kann eine Rückverwandlung im Gegensatz zu den Werwolfüberlieferungen nicht mehr stattfinden, da Mensch und Tier in früheren Zeiten, ohne die moderne medizinische Versorgung, dem Tode geweiht sind. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, die einen Menschen wolfsähnlich erscheinen lassen können.

Mediziner kennen die Hypertrichose, eine über das übliche Maß hinaus gehende Behaarung, von der der gesamte Körper befallen werden kann – mit Ausnahme der Handinnenflächen und Fußsohlen. In früheren Zeiten werden diese Wolfsmenschen auf den Jahrmärkten als Kuriositäten präsentiert. Einige von ihnen haben es zu großer Bekanntheit gebracht, etwa Julia Pastrana (1834-1860) oder Stephan Bibrowsky (1890-1932) alias Lionel der Löwenmensch. Ebenfalls selten ist die Lykanthropie, bei der sich die Erkrankten einbilden, ein Tier, durchaus auch ein Wolf, zu sein. Selbstverständlich ist es möglich, dass einige Geschichten über Werwölfe auf Fälle von Hypertrichose oder Lykanthropie zurückzuführen sind, ebenso wie auf einzelne Ausgestoßene, Ausgesetzte, entflohene Mörder, Sadisten, Vogelfreie und andere zwielichtige Gestalten, die sich früher in den Wäldern herumdrückten.
Dennoch ist eine andere Erklärung wahrscheinlicher, wie sich die Experten sicher sind: echte Wölfe und eine gehörige Portion Aberglaube. Bekannt geworden ist unter anderem die Bestie von Gévaudan in Frankreich, der in der Zeit von 1764 bis 1767 über 100 Opfer zugerechnet werden, überwiegend Frauen und Kinder. Bis heute ist nicht geklärt, wer diese Menschen wirklich getötet hat. Die historischen Zeugnisse berichten von Jagden auf ein Tier, das Zeitzeugen als eine Chimäre, ein Zwitterwesen, von "Wolf und Hund" beschreiben. Auf Befehl König Ludwig XV. wird schließlich ein großer Wolf getötet und der Fall zu den Akten gelegt. Allerdings gibt es später nachweislich noch weitere Opfer.
Je mehr der Mensch im Mittelalter in die Lebensräume der Wölfe eindringt und dort Ackerbau und Viehzucht betreibt, desto häufiger kommt es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit den dort lebenden Tieren. Über Jahrhunderte wird der Wolf als Bedrohung für das Vieh, ja die eigene Existenz angesehen und bis zur Ausrottung bejagt. In Zeiten von Hungersnöten, Viehseuchen und Krankheitsepidemien, aber auch Naturkatastrophen, spitzt sich der Konflikt weiter zu. Schuldige werden gesucht und gefunden: Im Zuge der Hexenverfolgungen kommt es auch zu Werwolfprozessen. Werwolfexperte Wilhelm Hertz erläutert das so: "Mit dem Hexenglauben entstand die Vorstellung von Menschen, die sich mithilfe des Satans aus reiner Mordlust zu Wölfen verwandeln."
In einem der bekanntesten Werwolfprozesse werden dem Bauern Peter Stubbe über ein Dutzend Morde zur Last gelegt. Als "Werwolf von Bedburg" wird er am 31. Oktober 1589 hingerichtet. Noch heute kennt man im Rheinland den Stüpp als Synonym für den Werwolf an sich. Am Fall Peter Stubbes lässt sich auch das allmähliche Verblassen der Angst vor den Werwölfen nachzeichnen. Ursprünglich einmal gefürchtet, taucht er in den Erzählungen des 19. Jahrhunderts nur noch als eine Art dämonischer Quälgeist auf.
Im 20. Jahrhundert sind die Menschen wesentlich aufgeklärter, die Hexen- und Werwolfprozesse längst eingestellt und die Wölfe in Mitteleuropa praktisch ausgerottet. Die Angst vor dem Schrecken der Werwölfe macht im Laufe der Zeit mehr und mehr einem wohligen Schauer im Kinosessel Platz.