Lebensader zwischen Rhein und Neckar
Seit 126 Jahren fährt die Bahn im Dreieck – Ralph Dißinger saß 17 davon am Steuer. Eine Rundfahrt mit einem, der die Strecke kennt, wie kaum jemand.

Seit 1891 verbindet eine Straßenbahn Stadt und Land in der Metropolregion. Hier fährt die Linie durch den Mannheimer Wald. Fotos: Archiv rnv GmbH/Haubner
Von Denis Schnur und Sebastian Blum
Wieder fährt eine Straßenbahn vorbei und wieder kann Ralph Dißinger es nicht lassen. Obwohl er seit 14 Jahren kaum selbst am Steuer sitzt, winkt er jedem Fahrer. "Das ist ein Automatismus", sagt er auf einem Vierer in der Bahn wie zur Entschuldigung. Dabei ist das alles andere als verwunderlich: Dißinger hat von 1986 an die OEG und heutige RNV-Linie 5 durch das Dreieck Mannheim-Heidelberg-Weinheim gefahren.
1998 wechselte er ins Stellwerk und fuhr noch eine Handvoll Schichten pro Monat. Seit 2003 ist der 54-Jährige in der Planung der RNV tätig, Vorgesetzter der Fahrer, oder "Mädchen für alles, was außergewöhnlich ist", wie er es nennt. Fahren tut er nur noch, wenn Not am Mann ist - und doch betont er: "Im Führerstand, da bin ich zuhause."
Es ist Mittwochmorgen, gemeinsam mit Dißinger fahren wir die Strecke, die er kennt wie kein Zweiter - und die für die Region so bedeutend ist. "Die OEG ist eine der wichtigsten Lebensadern im Rhein-Neckar-Raum", schrieb das Heidelberger Tageblatt 1961 zum 50-jährigen Bestehen der Bahn. 22 Millionen Menschen sind damals jährlich mit der Bahn gefahren, heute sind es sogar 27,6 Millionen.
Auch darüber hinaus hat sich viel verändert: Die Bahnen werden elektrisch betrieben, die OEG gehört zur RNV - und die Atmosphäre ist anders: "Als ich anfing, war der Fahrerstand offen, es gab viel direkten Kontakt mit Fahrgästen", erinnert sich Dißinger, "heute kommen die fast nur, wenn sie was wollen." Vermisst man den Austausch? "Es gibt ja solche und solche Fahrgäste. Die Netten vermisst man", sagt er und lacht.
Währenddessen füllt sich die Bahn am Mannheimer Hauptbahnhof. Über Neuostheim bewegt sich der Zug aus der Stadt: "In den Dörfern sind die Passagiere anders", erklärt er, "hier sagt man eher ,Guten Morgen‘, in der Stadt selten." Je weiter wir uns von Mannheim entfernen, desto leerer wird der Zug. Erst in Wieblingen steigen wieder mehr Fahrgäste ein.

"Ochsenkopf" ruft die Computerstimme plötzlich aus dem Lautsprecher. Dißinger schüttelt den Kopf: "Wir haben gelernt, dass man ,Heidelberg Ochsenkopf‘ sagt - damit sich niemand angesprochen fühlt." Heute käme das aber "aus der Konserve". Veränderungen hat Dißinger immer wieder mitgemacht. Allein die Übernahme der OEG durch die MVV im Jahr 2000 brachte viel Neues - trotzdem sieht er sie positiv: "In erster Linie haben wir viele Kollegen dazubekommen."
Auch durch die Fusion der Verkehrsunternehmen der Region zur RNV sei vieles leichter geworden. So sei die gegenseitige Anerkennung von Tickets zuvor unnötig kompliziert gewesen. Heute ist das einfach, wie man am Heidelberger Hauptbahnhof sieht: Auf einen Schlag wird die Bahn voll, Pendler steigen von S-Bahnen und Zügen auf die Linie 5 um, einen neuen Fahrschein braucht kaum jemand. "Die Bahn ist nicht lange voll", prognostiziert Dißinger - und am Bismarckplatz steigen tatsächlich die meisten Fahrgäste aus, nur wenige ein. Diese verteilen sich im Wagen, Rentnerinnen diskutieren, junge Menschen starren auf ihr Handy.
Die Bahn rollt durch Dossenheim. "Hier fuhr vor 20 Jahren immer die ,Gutzeloma‘ mit", erinnert sich der ehemalige Fahrer. Eine ältere Frau Ende 80. "Warum soll ich daheim rumsitzen? Ich hab ja meine Fahrkarte!", habe sie gesagt. Die Rentnerin kannte alle Fahrer und legte ihnen immer Schweizer Kräuterzucker hin. "Eine Passagierin, an die man sich gerne erinnert."

In Schriesheim bleibt unsere Bahn stehen. "Fahrtende. Bitte aussteigen!", sagt die "Konserve". Die Rundfahrt pausiert. "Hier machen auch die Fahrer ihre Pause", erklärt Dißinger. Sie vertreten sich die Beine, trinken Kaffee, sitzen im Pausenraum. Der ist denkbar schlicht: Ein Spint, zwei Toiletten, ein Getränkeautomat.
Nach zehn Minuten kommt die nächste Bahn. Auf dem Vierer nebenan sitzt nun ein Opa mit seinen beiden Enkelkindern. Er will ihnen die Region näherbringen - mit der Linie 5. "Wir fahren das Dreieck", erklärt er. Nebenbei liefert er historische Infos: "Die B 3 war schon eine Römerstraße. Wusstet ihr das?", fragt er. "Da hinten ist das McDonalds", antwortet sein Enkel - und wendet sich wieder dem Smartphone seiner Schwester zu.
"Hier schafft man es auch mal, einen Pkw zu überholen", erklärt Dißinger kurz vor Großsachsen. Autos dürfen hier 70 km/h fahren, Straßenbahnen 80. "Schneller geht eh nicht", sagt Dißinger. Schon versucht? "Wer würde das nicht?" Doch auch Bahnfahrer müssten aufpassen: "Wir werden von Radarfallen erfasst", erklärt der 54-Jährige. Der ein oder andere Kollege habe schon Knöllchen bekommen.
Hintergrund
■ Das Gleisdreieck entsteht: Als Güterstrecke für die Dossenheimer Steinbrüche beginnt am 26. Juni 1883 der Schienenbau zwischen Heidelberg und Schriesheim. Mehrere deutsche Unternehmer sehen großes Profitpotenzial in der Eisenbahn und bauen zudem die
■ Das Gleisdreieck entsteht: Als Güterstrecke für die Dossenheimer Steinbrüche beginnt am 26. Juni 1883 der Schienenbau zwischen Heidelberg und Schriesheim. Mehrere deutsche Unternehmer sehen großes Profitpotenzial in der Eisenbahn und bauen zudem die Strecken Mannheim-Weinheim und Weinheim-Heidelberg. Am 13. Juli 1891 ist das Gleisdreieck mit der Strecke Mannheim-Heidelberg komplett. Güter und Personen werden transportiert.
■ Mannheim übernimmt: Das Dreieck liegt anfangs in privaten Händen. Nach langen Verhandlungen wird jedoch die Stadt Mannheim mit 51 Prozent Anteilen Hauptaktionär und am 8. Juli 1911 geht die Oberrheinische Eisenbahngesellschaft (OEG) als eines der ersten gemischtwirtschaftlichen Unternehmen Deutschlands in die Geschichte ein.
■ Elektrifizierung: Die Strecke Mannheim-Weinheim hängt schon ab September 1915 am Stromnetz. 1956 wird auch der letzte Abschnitt Schriesheim-Weinheim von Dampf auf Strom gestellt. Am 17. Januar 1967 fährt der "Feurige Elias", mit Kränzen geschmückt, nach 62 Jahren zum letzten Mal auf der Güterlinie bei Dossenheim.
■ Schulden: Der große Hilferuf kam 1971: Noch nie hatte sich der Personenverkehr für die OEG finanziell rentiert, doch jetzt liegt der Schuldenberg bei 4,8 Millionen Mark. Mannheim trägt 1,3 Millionen Mark und droht als Hauptaktionär, das Stück Schriesheim-Weinheim vom Netz zu nehmen. Die Umlandgemeinden und Heidelberg beteiligen sich schließlich an der Schuldentilgung, nicht jedoch das Land Baden-Württemberg. Mitte der 70er Jahre wird die Bahn "rationalisiert": weniger Personal und Fahrspannung, mehr Automatik durch Sprechanlagen und Fahrkartenschalter.
■ RNV: Nach der Übernahme durch die städtische Mannheimer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (MVV) 2000 und der Verschmelzung mit der MVV Verkehr 2010 wird die ehemalige OEG heute als Linie 5 von der RNV betrieben. sbl/dns
Außerdem gebe es im Netz fest installierte Geschwindigkeitskontrollen. Auf eine davon fährt unsere Bahn zu - und bremst auf 30 km/h ab. Überholte Autos fahren spätestens jetzt wieder vorbei. Aber hier in Großsachsen ist die Strecke - wie in Schriesheim und Dossenheim - eingleisig. Teilweise fahren die Bahnen sogar entgegen der Richtung der Autos: "Das würde man heute nicht mehr bauen können", so Dißinger. Kein Wunder: Immer wieder sind Autofahrer überfordert. Dann dauere es, "bis die merken, dass die Bahn nicht mal eben zur Seite fährt".
Weiter geht es durch Weinheim, auf den unsanierten Gleisen schwankt der Wagen, verlässt die Stadt und das Bundesland - denn einige Kilometer der Strecke führen durch Hessen. "Als Fahrer merkt man das nicht", so Dißinger, außer an den Feiertagen, die es in Hessen nicht gibt: Da setzt die RNV zusätzliche Bahnen zum Viernheimer Rhein-Neckar-Zentrum ein.
Fast direkt hinter dem Einkaufszentrum sind wir wieder in Mannheim. Im Benjamin-Franklin-Village steigen Flüchtlinge zu. Im Vorbeifahren erkennt man die alte Kaserne: "Die Amis waren unsere Stammkundschaft", so Dißinger. "Wir hatten sogar Fahrkarten gegen Dollar ausgegeben."
In der Stadt wird die Bahn wieder voll. "Da hinten ging es früher zum Weinheimer Bahnhof", sagt Dißinger, dort fuhren die Züge nach Weinheim ab. In den 60ern gab es da eine Kneipe, "wo die Bedienung bei jedem Fahrer wusste, ob er Pils oder Export trinkt. Im Verkehr galt die 1,5-Promille-Grenze - auch bei Bahnen." Lange her. Alkohol im Dienst ist heute natürlich tabu.
Nach 150 Minuten und 57 Kilometern sind wir wieder am Mannheimer Hauptbahnhof. Man merkt, dass Dißinger den Tag auf der Schiene genossen hat. Ohnehin fühlt er sich bei der RNV pudelwohl, auch wenn er findet: "Als Fahrer muss man viel Liebe zu Straßenbahnen mitbringen. Einen leichten Knacks sollte man schon haben."