Tarkan ist mehr als nur der Kuss-Kuss-Song (plus Fotogalerie)
Mit seinem Doppel-Schmatzer von einem Lied stürmte er weltweit die Charts. Über ein Vierteljahrhundert später kommt Tarkan nach Mannheim - und wird von 4500 Fans bejubelt.

Von Daniel Schottmüller
Mannheim. Die Fragen schwanken zwischen ungläubig und belustigt: "Tarkan? Gibt’s den noch?" Ja, wer sich für dieses Konzert Richtung SAP-Arena aufgemacht hat, konnte solchen Reaktionen schwer aus dem Weg gehen. Ist nun mal fast 30 Jahre her, dass "Sımarık" auf der Rückseite der Bravo-Hits-CD prangte und man den damals noch jungen Mann bei Viva die Hüften schwingen sah. Der Chorus mit dem charakteristischen Kuss-Kuss-Moment sorgt auf Neunziger-Partys aber nach wie vor für Ekstase. Es war der erste und vorerst letzte türkische Popsong, der global die Charts erobert hat.
Für seine Fans ist Tarkan Tevetoglu trotzdem kein One-Hit-Wonder. Und so ist die Arena bumsvoll, als er gegen 21.15 Uhr ins Licht tritt. Kein glattrasierter Teenie-Herzensbrecher mehr. Stattdessen ein 52 Jahre alter Familienvater mit Bart. Das Paillettenhemd, die hautengen Jeans und vor allem die Dance-Moves, die er in den nächsten eineinhalb Stunden vollführt, die sind aber unverkennbar: Ja, Tarkan gibt es noch! Und er hat Mannheim sein makelloses Colgate-Grinsen mitgebracht. Während dramatische Synthie-Streicher und Elektrobeats die aktuelle Single "Yo" einschieben, filmen und singen fast alle der 4500 selig mit.
Für viele Menschen mit türkischen Wurzeln ist dieser Mann ein Megastar. Er mag keine Autostunde entfernt, im rheinhessischen Alzey, zur Welt gekommen sein: Die meiste Zeit seines Lebens hat Tarkan aber im Heimatland seiner Eltern verbracht. Hier hat er sich seit Beginn der Neunziger eine Fanbase ersungen, die über Jahrzehnte und Generationen hinweggewachsen ist und türkische Communitys weltweit vereint.
Einen Tarkan beäugt selbst das Regime Erdogan mit misstrauischem Respekt. Als die Regierung 2009 das Städtchen Hasankeyf im Südosten der Türkei fluten wollte, stellte sich der Sänger und Songwriter der Umweltzerstörung in den Weg. Und als er während der Pandemie den Song "Geccek" rausbrachte, in dem er betont, dass die schlimme Zeit bald zu Ende sei, witterten die AKP-Schergen auch darin eine unterschwellige Attacke auf das Autokratensystem.
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Der Auftritt in Mannheim wirkt weniger politisch. "Tesekkürler" (danke) und "cok güzel" (sehr gut) hört man Tarkan immer wieder sagen – offensichtlich gerührt von der Treue seiner Fans. Und als der Müzik-Star auf einem Barhocker Platz nimmt, um die großen Balladen anzustimmen, glitzern seine feuchten Augen mit den Pailletten um die Wette.
Eine Feier des Sich-Verzehrens
Ja, heute breitet er die Liebe aus – ein Hauch von "Hüzün", dieser speziell türkischen Spielart melancholischen Sehnens, weht den ganzen Abend durch die Halle. Selbst wenn einem die Beats der Live-Band direkt in die Beine fahren ... Bestes Beispiel: "Sıkıdım", das mit seiner kraftvoll angeschlagenen Akustikgitarre und dem markanten Streicher-Motiv in die Neunziger katapultiert: "Oynama sıkıdım sıkıdım", schmettert alles. Mitreißend klingt das, lebensfroh – und doch anklagend. Im Text brennt der Sänger für jemanden, der ihn genussvoll zappeln lässt. Eine Frau? Ein Mann? Bei Tarkan war das lange nicht sicher.
Seine lasziven Bewegungen, die Schminke im Gesicht: All das war Konservativen ein Dorn im Auge. Genauso wie die Bilder, die ihn Anfang der Zweitausender eng umschlungen und in einem anderen Fall sogar nackt mit Geschlechtsgenossen zeigten. Als ein Erpresser damit drohte, ihn als schwul zu outen, antwortete Tarkan damals, er habe sich für nichts zu schämen.
Schambefreit wirbelt er auch über den Bühnensteg der Arena. Die Leinwand hinter ihm in leidenschaftliches Rot getüncht, animiert Tarkan zum Mitsingen, Mitklatschen. Selbst die Almans auf der Pressetribüne wippen unwillkürlich im Takt. Wenn dann noch die Mitsing-Refrains wie bei "Öp" eingeblendet werden – "Öp-Öp-Öp Bak-Bak-Bak" – gibt es kein Halten mehr. Tarkan schreibt nun mal richtige Ohrwürmer.
Beinahe könnte man seine Show als One-Man-ESC beschreiben. Denn vieles von dem, was man vor Kurzem in Basel gehört hat, findet sich auch im Repertoire des 52-Jährigen wieder. Rock zum Beispiel, wenn der Gitarrist ein krachendes Interlude runterschreddert. Aber auch Club-Sounds, Funk, Kirmes-Techno. Schwungvolle orientalische Volkslieder klingen genauso an wie Schlagerpop à la Vanessa Mai. Und natürlich sind da die exaltierten Synthies zu hören, die Tarkan als glühenden Falco-Fan identifizieren – alles klar, Herr Türkpop-Star? Nur die verlässlich synkopierten Beats und die sanfte Stimme des Sängers, die bleiben immer gleich.
Mannheim feiert’s. Tatsächlich dürften die Fans zu zwei Dritteln weiblich und mehrheitlich jünger als ihr Held sein. Ganze Freundinnen-Gruppen haben sich vor Konzertstart noch ein Sektchen gegönnt und bejubeln jetzt die androgynen Moves und die Küsschen ins Publikum. Selbst in den Oberrängen tanzen sie mit. Und apropos Küsschen: Seinen Smash-Hit "Sımarık" haut Tarkan lässig zur Konzertmitte raus. Stattdessen endet er mit einem Song aus dem Jahr 2025 – dem epischen "Dönmüyor Giden". Wer in die Gesichter schaut, die ihn nach den letzten Takten in die Nacht verabschieden, der spürt: Für sie wird es Tarkan immer geben. Und das ist auch gut so.