Auf der Suche nach den Extremen
Mit dem Wochenende "Standpunkte" erreicht der Heidelberger Frühling seinen programmatischen Höhepunkt.

Von Jesper Klein
Heidelberg. Seine Musik sei wie Unkraut mit viel Dornengestrüpp, schrieb Ferruccio Busoni einst über Kaikhosru Sorabji (1892-1988). Beide standen im Mittelpunkt des "Standpunkte"-Wochenendes beim Heidelberger Frühling: Busoni als Ideengeber für das Thema Entgrenzung, Sorabji als Komponist eines kolossalen Klavierstücks. Rund 8,5 Stunden dauert die Aufführung seiner "Sequentia Cyclica", einem 27-teiligen Variationswerk über das Dies irae, eine in der Musikgeschichte immer wieder gern zitierte Sequenz der Totenmesse. Der britische Pianist Jonathan Powell schlug sich durchs Dickicht, er brachte das Werk in Heidelberg zur deutschen Erstaufführung und schrieb damit ein Stück Festivalgeschichte.
Wir zoomen hinein: Am Sonntag um 11 Uhr sind bereits gut fünf Stunden des Klaviermarathons absolviert, auf dem Programm steht nun eine Passacaglia mit 100 (!) Variationen. In Heidelberg serviert man Sorabjis Werk als Häppchenkost in fünf Konzerten, alle für sich bleiben große Brocken. In der Alten Aula ist ein kleiner Kreis Eingeweihter zusammengekommen. Entgrenzung, das bedeutet hier auch eine Lossagung vom Publikum, ja von der tatsächlichen Aufführung. Sorabji lebte zurückgezogen wie ein Eremit. Er selbst wollte nicht, dass seine Musik gespielt wird.
Tatsächlich merkt man das dieser Musik an. Was stattdessen ihr Ziel ist, bleibt zu diskutieren. Musik als Sport? Gewiss für den Interpreten, der diese Tour de Force bewältigen muss. Musik als Obsession? In jedem Fall. Am besten gibt man sich diesem Erlebnis einfach hin. Jonathan Powell ist jedenfalls mit recht humorloser Leidenschaft bei der Sache und singt in bester Glenn-Gould-Manier mit. Über 90 Minuten wird das Thema nach allen Regeln der Kunst durchgewalkt: von brachial bis transzendental. Das Ende kommt beinahe überraschend. Fast meint man, das Stück könne stundenlang so weitergehen – bis einen der Programmzettel daran erinnert, dass es das ja auch tut. Ein Erlebnis ist es allemal. Wer dabei war, hat etwas zu erzählen.
Ortswechsel: In der Neuen Aula sitzt Igor Levit am Klavier. Wer die Karriere des Pianisten in den vergangenen Jahren verfolgt hat, weiß, dass ihn gerade die Extreme reizen. Große Variationswerke hat er in Angriff genommen, von Bach bis zu Frederic Rzewski, zuletzt die Passacaglia on DSCH von Ronald Stevenson. Jetzt geht es um Schostakowitsch.
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In reinem C-Dur beginnt eine Reise durch alle 24 Tonarten, wie sie schon Bach in seinem Wohltemperierten Klavier unternahm, auf den sich Schostakowitsch hier bezieht. Folgt man Levit zu Busoni und dessen Leitsatz, Musik sei tönende Luft, ist die Musik nicht gebunden an die Lebensgeschichte Schostakowitschs mit dessen komplizierter Rolle im stalinistischen System. Es lässt sich am besten über den Zauber der Musik erklären, dass man in den 24 Präludien und Fugen op. 87 trotzdem so viel Persönliches hört. Levits Kunst zeigt sich darin, wie er all die einzelnen Kapitel, in denen der Komponist Verschiedenstes zu sagen hat, zu einer großen Erzählung zusammenfügt. Das Publikum jubelt und dankt mit stehenden Ovationen.
Wer wie Levit nach den Extremen sucht, ob als Programmplaner oder Pianist, kann nicht an beiden Polen das Spektakel finden. Das bekommt auch das Publikum zu spüren. Nein, die Saaltüren werden nicht von außen verschlossen, witzelt Levit noch, nachdem er Teile des Publikums mit Morton Feldmans "Palais de Mari" durchaus in eine gewisse ungeduldige Unruhe versetzt hat. Dabei lohnt sich das Hinhören, denn Levit findet mittels subtilster Anschlagskunst und -technik so viele Abstufungen des Leisen in diesem unspektakulären Klavierstück. Anfangs klingt es noch, als wären die vereinzelten Töne das stehen gebliebene Gerüst eines Bachchorals, den man sich in die vielen Zwischenräume hineindenken kann. Später verblasst dieser Eindruck und die Freude liegt im Ausdruck einzelner Töne. Überzeugend ist zudem die Idee, dem Werk Musik von Bach an die Seite zu stellen. Das Vocalensemble Rastatt singt unter der Leitung von Holger Speck bei perfekter Textverständlichkeit homogen im Miteinander und transparent im Gegeneinander der imitierenden Stimmeinsätze.
Beständig brechen die Programme an diesem Wochenende aus den Gewohnheiten und Gepflogenheiten klassischer Konzerte aus. Und es lohnt sich, abseits der ausgetretenen Pfade unterwegs zu sein: Immer wieder dient dabei Bach als Bezugspunkt. Ob bei Iveta Apkalna mit Philip Glass, einer Uraufführung von Lisa Streich mit dem Klangforum oder bei Levit’s Late Night mit Busonis "Fantasia contrappuntistica" für zwei Klaviere, die auf überbordende Weise mit Vordergrund und Hintergrund spielt. Ohne Frage: Mit den "Standpunkten" hat der Heidelberger Frühling seinen programmatischen Höhepunkt erreicht.