Von Milan Chlumsky
Mannheim. Es ist ein seltsames Gefühl, als Besucher Nr. 2 die Kunsthalle zu betreten – wenn ich nicht meine Maske im Auto vergessen hätte, wäre ich sogar Besucher Nr. 1 vor einer alten Dame. Es steht überdeutlich an der Eingangstür geschrieben: Eintritt nur mit Mundschutz.
Johan Holten begrüßt die ersten Besucher und erläutert, wie es weitergehen soll: "Zunächst möchten wir nur die Ausstellung von Walker Evans zugänglich machen, d. h. sehen, wie sich die Besucher darin verhalten. Wir haben deshalb eindeutig den Eingang gekennzeichnet, und auch den Ausgang. Dann werden wir nach und nach andere Räume zugänglich machen, je nachdem, welche Erfahrungen wir machen werden. Die Biennale, die am 26. April zu Ende gehen sollte, wird sicher mindestens bis zum 26. Juni oder auch länger laufen. Wir haben ein großes Entgegenkommen der Leihgeber erfahren."
Schöne Inszenierung
Ich schaue mich um, alle Exponate im Atrium sind da, der große Anselm Kiefer an der Wand und die runde Uhr vor Alicja Kwade dreht ihre Kreise. Die große Digitaltafel im Foyer ist aber abgeschaltet, man möchte Ansammlungen von Menschen vermeiden.
Jede der Aufsichtspersonen trägt eine Maske, der Direktor und die Kuratoren gehen mit gutem Beispiel voran.
Im Studio wird noch an der Ausstellung "On the Quiet" gearbeitet, ein Projekt, das daraus besteht, eine ganze Wanderausstellung mit Kunstwerken und Konzepten in einen 31,5 Kilogramm schweren Koffer zu packen, die erst vor Ort im jeweiligen Museum mit deren logistischen Mitteln wie Mediatechnik, Wandfarben, Mobiliar usw. realisiert wird. Das Studio ist ein Ort transdisziplinärer Experimente, auf Instagram und Facebook werden 13 Videoclips dazu präsentiert. Auch die Webseite des Museums weist auf das Experiment filmisch hin.
Mit Fotografien von Walker Evans präsentiert die Biennale für aktuelle Fotografie in der Kunsthalle Mannheim einen der bedeutendsten amerikanischen Fotografen des letzten Jahrhunderts. Die Ausstellung über drei große Hallen – von dem Engländer David Campany kuratiert – zeigt ihn als Ideengeber für Konzepte der modernen Fotografie.
Zunächst wollte Evans Schriftsteller werden und begann sein Studium an der Pariser Sorbonne über die beiden großen französischen Literaten Charles Baudelaire und Gustave Flaubert. Daneben verkehrte er in Pariser Künstlerkreisen und interessierte sich für moderne Kunst. Zurück in den USA, gab er den Wunsch auf, Schriftsteller zu werden.
1928 beschloss Evans, sich der Fotografie zu widmen. Er kannte sich gut in der Kunst der sowjetischen Avantgarde aus, seine Kenntnisse der Errungenschaften des Bauhauses waren beeindruckend.
Als einem der wenigen Intellektuellen unter den Fotografen waren ihm Walter Benjamins Studien zu Fotografie und Bildender Kunst geläufig. Ebenso war er vertraut mit Arbeiten von August Sander sowie Albert Renger-Patzsch, und die Neue Sachlichkeit war kein Fremdwort. Alle dies floss in seinen grafisch abstrakten konstruktivistischen Stil ein, den er zum ersten Mal in den Fotografien der Brooklyn Bridge zu dem Gedichtband von Hart Crane ("The Bridge") 1929 zeigte.
Es folgte die Auseinandersetzung mit Arbeiten von Eugene Atgèt sowie den amerikanischen Dokumentarfotografen Lewis Hine und Matthew B. Brady. Bald beherrschte der Autodidakt die Arbeiten mit einer Großformatkamera, seine Leica war ein ständiger Begleiter auf Reisen.
Berühmt ist seine Fotoserie aus den armen Südstaaten im Auftrag der FSA (Farm Security Administration). Dabei hatte sich Evans vorgenommen, die Lage der Menschen so objektiv wie möglich zu fotografieren: "Es handelt sich hier um bloßes Aufzeichnen, und vor allem nicht um Propaganda", auch wenn es um die hehren Ziele der Verbesserung des ärmsten Teils der amerikanischen Bevölkerung im Rahmen von Roosevelts New Deal ging.
Evans hasste auch die Larmoyanz, sein fotografischer Bericht sollte schnörkellos sein. Die amerikanische Regierung änderte aufgrund der Fotografien von Evans, Lange, Hine sowie anderen die Gesetzgebung zu einem neuen Hilfsprogramm für die verarmten Farmer.
Welchen enormen Einfluss Evans nicht nur auf die Generation der vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Fotografen hatte, ist jetzt in der Ausstellung der Kunsthalle Mannheim zu sehen. Allein 18 Fotografen berufen sich auf ihn – direkt oder indirekt: Julia Curtin, indem sie in ihrer Serie aus Lynchburg auf Evans‘ "Settlements" zurückgriff und deutlich machte, wie stark immer noch der visuelle Appell der Reklame in kleinen Dörfern und Städtchen präsent ist, oder George Georgious unverfälschte Porträts der "anderen USA" mit ihrer verarmten Mittelschicht während der George Washington Day Parade in Loredo, Texas, oder der Mardi Gras Parade in New Orleans. Andere, wie Jessica Potter oder Justine Kurland, nutzen Ausschnitte aus Walker Evans‘ Arbeiten für ihre eigenen fotografischen Projekte.
Schön und intelligent inszeniert in den Bezügen zu den mehr als 30 Fotografien von Walker Evans ist die Wiedereröffnung der Biennale der aktuellen Fotografie (andere Häuser wie das Hack-Museum, die Reiss-Engelhorn Museen und die Kunstvereine Heidelberg und Ludwigshafen folgen) ein großartiges Ereignis für alle, die die Kunst in den vergangenen zwei Monaten vermisst haben. Schön, dass da unter den Ausstellungsmachern, Museums- und Kunstvereinsverantwortlichen offenbar ein Einvernehmen herrscht.
Info: Mannheimer Kunsthalle: Biennale der aktuellen Fotografie (Walker Evans) bis etwa Ende Juni 2020. www.kuma.art
Update: Montag, 11. Mai 2020, 16.30 Uhr
Mannheim. (lsw) Mit einer Fotoausstellung und einer Installation ist die Kunsthalle Mannheim am Freitag als eines der ersten Museen in der Metropolregion nach der Corona-Zwangspause wieder an den Start gegangen.
Museumschef Johan Holten begrüßte die ersten Besucher. Ihnen wird eine Ausstellung mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Walker Evans aus dem Amerika der 1930er-Jahre und die Installation "On the Quiet" von Benjamin Appel und Carolina Perez Pallares geboten.
Einen Ansturm habe es auf das Museum nicht gegeben, sagte eine Sprecherin. "Es plätschert so dahin." Zu den Sicherheitsvorkehrungen des Hauses gehören das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, Desinfektionsmittel für die Besucher und das Einhalten des Mindestabstands. Um den Besucherstrom kontrollieren zu können, gibt es einen vorgezeichneten Rundgang.
Stand: Samstag, 9. Mai 2020