Aus Jobst Wellensiek sprudeln die Anekdoten heraus
Ein Gespräch mit Deutschlands bekanntestem Insolvenzverwalter, aus Anlass seines 90. Geburtstages.

Von Klaus Welzel
Heidelberg. Wenn Deutschlands bekanntester Insolvenzverwalter 90 wird, steht die Presse Schlange. Jobst Wellensiek entschied sich, ausschließlich der Rhein-Neckar-Zeitung ein Interview zu geben. Gut gelaunt sitzt er – wie jeden Morgen – am Schreibtisch in seiner Kanzlei in der Heidelberger Weststadt. Die Akten zur Seite geräumt, eine Tasse Kaffee. Beim Friseur war er natürlich auch schon, wie immer mittwochs. Und schon sprudeln die Anekdoten aus ihm heraus. Es geht um Vertrauen und um die Kunst, ein guter Insolvenzverwalter zu sein.
Herr Wellensiek, war es Ihr Herzenswunsch, Insolvenzverwalter zu werden, oder steckte Kalkül dahinter?
Für mich war eigentlich schon immer klar, dass ich Jurist werde, weil mein Stiefvater Rechtsanwalt war. Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt, als er starb, war ich erst zwei Jahre alt. Meine Mutter heiratete dann den Rechtsanwalt Dr. Eugen Moufang, der aus einer bekannten Heidelberger Familie stammte. Auch dessen Vater war Rechtsanwalt. Seine Kanzlei gehörte zu den ältesten in Heidelberg. Mein Stiefvater war für mich wie ein Vater und mein Vorbild. So studierte ich Jura, wobei ich in den ersten Semestern nicht sehr engagiert war. Ich habe viel Sport getrieben, das heißt Tennis gespielt – oder geflirtet mit jungen Damen (lacht).
Und dann sind Sie in die Kanzlei Ihres Stiefvaters eingetreten?
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Ja, und erst von da an hat mir die Juristerei auch richtig Spaß gemacht. Während der Studienzeit schrieb ich nicht die besten Arbeiten, habe aber in kurzer Zeit ordentliche Examen gemacht. Dies war auch nötig, da mein Stiefvater schon viele Jahre krank war und nur mit großer Mühe die Kanzlei für mich erhalten hat. Mein Stiefvater hatte mit dem "Neckaradel" sehr vornehme Mandantschaft, zu der die Gräfinnen von Helmstatt und der Baron von Venningen gehörten. Man korrespondierte noch in dritter Person. Das musste ich erst lernen, es hat mir aber später sehr geholfen, als ich vier Jahre lang die Fürstin von Thurn und Taxis beraten habe.
Hintergrund
BIOGRAFIE
Name: Jobst Wellensiek
Geboren am 19. November 1931
in Mannheim
Werdegang Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 1961 Promotion an der Universität Heidelberg. Im Jahr zuvor bereits Zulassung als
BIOGRAFIE
Name: Jobst Wellensiek
Geboren am 19. November 1931
in Mannheim
Werdegang Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 1961 Promotion an der Universität Heidelberg. Im Jahr zuvor bereits Zulassung als Rechtsanwalt; inzwischen Seniorsozius der Anwaltssozietät Wellensiek Rechtsanwälte. Seit 1964 über 900 Insolvenzverfahren als Liquidator, darunter zahlreiche Großverfahren (Neff, Korf Stahl, Maxhütte, Interflug, Klöckner, Bremer Vulkan, Süba Bau, SV Waldhof und SSV Ulm).
Mitgliedschaften: Rechtsanwaltskammer Karlsruhe (von 1998-2012 Präsident), Vorsitzender Anwaltsverein Heidelberg (1981-2003), Seit 2001 im Kuratorium der Stiftung Universität Heidelberg, ab 1999 im Kuratorium der Portheim-Stiftung (2008 -2013 Vorsitzender), 2005-2011 Vorsitzender des Theater-Freundeskreises Heidelberg – alle genannten Organisationen ernannten Wellensiek im Anschluss zum Ehrenpräsidenten oder –vorsitzenden), seit 1976 Mitglied im Rotary-Club Heidelberg-Schloss, 1974-1995 Erster Vorsitzender des Heidelberger Tennis-Clubs 1890 e.V.
Auszeichnungen: Bundesverdienstkreuz, Bayrische Staatsmedaille, Staufermedaille, Ehrensenator Uni Heidelberg, Bürgerplakette und Ehrenplakette der Stadt Heidelberg.
Privat Zweimal verheiratet, drei Töchter ein Sohn, 2015 starb Ehefrau Annelie.
Stand Gloria vor der Insolvenz?
Nein, keineswegs. Aber sie hatte enorm hohe Erbschaftssteuern zu zahlen, die nicht einfach zu finanzieren waren.
Ihr erstes Konkursverfahren ...
... war ein Trompeter aus Eberbach, der nebenbei ein Haushaltswarengeschäft betrieb und dabei Umsatz mit Gewinn verwechselte.
Was Sie ja immer wieder erlebten.
Ja, das größte Beispiel war die Bremer Vulkan Werft, die auch Kreuzfahrtschiffe bauen wollte und damit scheiterte. Die Herstellungskosten der "Costa Viktoria" waren erheblich höher als der später erzielte Kaufpreis.
Gibt es eigentlich den geborenen Insolvenzverwalter?
Also den geborenen – das kann ich mir nicht vorstellen. Der Beruf des Insolvenzverwalters lag mir aber, da ich kein "Schreibtischtäter" war, sondern gerne die vorübergehende Geschäftsführung von Unternehmen übernahm.
Vertrauen ist wichtig in Ihrem Beruf?
Ganz wichtig. Das ist das A und O. Denn wenn man hintergangen wird oder das Vertrauen nicht mehr da ist, dann ist eine erfolgreiche Zusammenarbeit praktisch nicht möglich. Noch heute versichern mir Mandanten ihr großes Vertrauen zu mir, auch außerhalb des Insolvenzrechts.
Kommt es oft vor, dass in einem Insolvenzverfahren jemand sein Vermögen verschleiert?
Eigentlich hatte ich nur einen krassen Fall, wo der Betroffene zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurde.
Sie haben über 900 Konkurs- und Insolvenzverfahren betreut – und wurden dabei oft von der Gewerkschaftsseite vorgeschlagen, um zu retten, was zu retten ist. Wie schafft man das dafür notwendige Vertrauen?
Das Verfahren, das mir am meisten am Herzen lag, war die Maxhütte im Jahr 1987. Hier genoss ich viel Vertrauen. Der Freistaat unterstütze meine Sanierungsbemühungen außerordentlich. Ich hatte bei dem damaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß drei Privataudienzen. Er wies darauf hin, dass ich größte Freiheit hätte alles zu tun, um den Stahlstandort Mittlere Oberpfalz zu erhalten. Bei der Maxhütte konnte ich dann im Großen umsetzen, was mir schon in kleineren Verfahren geglückt war, das Unternehmen eine Zeit lang fortzuführen und zu sanieren. Dadurch wurde eine Liquidation vermieden, in deren Folge wirtschaftliche Werte zerschlagen worden und eine Vielzahl von Arbeitsplätzen verloren gegangen wären.
Inzwischen ist es ja wesentlich leichter, in Insolvenz zu gehen, um ein Unternehmen noch zu retten ...
Dies ist vielleicht mein Lebenswerk, mit dazu beigetragen zu haben, die Konkursordnung zu reformieren. Dies führte auch dazu, dass ich Mitglied einer Kommission wurde, die die Reform des Konkursrechts plante und auf den Weg brachte. Vorbild waren übrigens die Regelungen des Chapter Eleven in den USA. Das Insolvenzrecht ist sehr zerpflückt worden in den letzten Jahren. Wie ich hörte, soll es in Brüssel Bestrebungen geben, so viel wie möglich vor der Insolvenz zu regeln, wodurch die Aufgaben eines Insolvenzverwalters wesentlich reduziert werden.

Ein Betriebsrat der Bremer Vulkan Werft sagte in den 90er-Jahren zu Ihnen: "Herr Wellensiek, wir schließen Sie in unsere Gebete ein." Wie geht man mit so einer Äußerung um?
Das bewegt schon. Es waren oft die Arbeitnehmer – so auch hier –, die gesagt haben, wir wollen den Wellensiek, weil der für die Arbeitsplätze kämpft. Das beruhte insbesondere auf dem Verfahren Maxhütte, indem es mir gelungen war, viele Arbeitsplätze zu retten.
Politische Unterstützung – ob in Bayern oder Bremen – ist also wichtig?
Auf jeden Fall. Bei der Bremer Vulkan Verbund AG ging es letzten Endes um rund 25.000 Arbeitsplätze.
Muss ein guter Insolvenzverwalter nicht auch Betriebswirt sein?
Das ist völlig richtig. Ich habe mir selbst viel erarbeitet. Wie man sagt: "Learning by Doing." Mit Zahlen konnte ich gut umgehen. Für mich war wichtig, dass mir jeden Tag die Finanzbestände offengelegt wurden und Transparenz herrschte.
Wie hoch ist die Vergütung?
Die Vergütung richtet sich derzeit nach der insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung. Sie wird nach dem Wert der Insolvenzmasse berechnet, auf die sich die Schlussrechnung bezieht. So erhält der Insolvenzverwalter zum Beispiel von den ersten 35.000 Euro der Insolvenzmasse 40 Prozent, von dem Mehrwert bis 700.000.000 Euro 0,4 Prozent. Man kann davon ausgehen, dass ausschließlich bei Großverfahren hohe Vergütungen anfallen. Vor etlichen Jahren konnte in vielen Fällen ein Konkursverfahren nicht eröffnet werden, da noch nicht einmal die Kosten des Verfahrens gedeckt waren. Dies beruhte insbesondere darauf, dass die sogenannte freie Masse weitgehend mit Sicherungsrechten Dritter belastet waren.
Wer bestellt den Insolvenzverwalter?
Letztlich geschieht dies durch das zuständige Insolvenzgericht. Im Augenblick haben wir – erfreulich für die Wirtschaft – wenige Insolvenzverfahren. Aber viele Insolvenzverwalter, weil etliche Liquidatoren, die bei der Treuhand tätig waren, sich nach ihrem Ausscheiden bei der Treuhandanstalt als Insolvenzverwalter beworben haben. Es besteht also eine große Konkurrenz.
Wenn Sie mit Ihrer Erfahrung als Insolvenzverwalter auf die Coronakrise schauen: Hat die Bundesregierung da Vieles richtig gemacht?
Da möchte ich mir eigentlich kein Urteil erlauben. Die zu treffenden Entscheidungen sind doch sehr komplex. Ich hätte mir aber mehr Zentralität gewünscht, insbesondere, dass in allen Bundesländern dieselben Regeln gelten.
Also mehr Konsens: Was zeichnet einen "Konsensverwalter" aus?
Ein Konsensverwalter ist einer, dem es gelingt, die Interessen aller Beteiligten unter einen Hut zu bekommen. Das ist natürlich sehr schwierig.
Wer sind die üblichen Beteiligten?
Banken, Lieferanten und Arbeitnehmer. Auch die Gesellschafter können eine Rolle spielen. Wenn alle an einem Strick ziehen – die Banken, indem sie Massedarlehen zur Verfügung stellen, damit die Geschäfte weitergehen können –, ist das sehr hilfreich. Bei Klöckner habe ich als Vergleichsverwalter ein Massedarlehen bekommen – heute kaum denkbar – von 100 Millionen. Vertrauen! Ich habe das Darlehen fristgerecht getilgt. Auch mit den Lieferanten ist es schwierig, weil sie darauf vertrauen müssen, dass sie ihre Forderungen erfüllt bekommen, wenn sie weiter liefern. Auch das Vertrauen der Arbeitnehmer ist wichtig; dass sie engagiert weiterarbeiten und die Fachkräfte nicht gleich nach einem neuen Job suchen. Hier können Betriebsräte und Gewerkschaften erheblich unterstützend wirken.
Wer ist wichtiger: Betriebsräte oder Gewerkschaften?
Beide sind wichtig. Das größte Vertrauensverhältnis hatte ich zur IG Metall – das gilt noch heute. Insbesondere mit dem früheren IG Metall-Chef Franz Steinkühler bestand eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
War die Maxhütte Ihr Durchbruch?
Mein erster großer Fall – da war ich schon über 50 – waren die Neff Werke GmbH 1982. Diesen Betrieb habe ich mehrere Monate fortgeführt und an die Bosch-Siemens-Hausgeräte veräußert, wobei fast alle Arbeitsplätze gerettet werden konnten. Das war für mich der Durchbruch, sodass ich wenige Monate später als Konkursverwalter der Korf Industrie + Handel GmbH & Co. KG und Korf Stahl AG bestellt wurde.
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Sie haben sich selbst als "Pfälzer Frohnatur" bezeichnet. Hilft das bei den schwierigen Verhandlungen?
Das ist eine Veranlagung, die ich meinen Eltern zu verdanken habe: dass ich mich nicht lange ärgern kann oder ungehalten reagiere. Dass ich auch nicht gleich ausflippe, wenn‘s mal nicht so läuft, und dass ich meist guter Stimmung bin. Auch in der Kanzlei wissen alle, dass ich meistens gut gelaunt bin, auch wenn einmal kein Grund dafür besteht (lacht).
In Ihrem RNZ-Interview zum 80. Geburtstag sagten Sie, Sie lebten sehr glücklich in einer Patchworkfamilie. Vor sechs Jahren starb Ihre Frau Annelie – wie gehen Sie mit diesem Verlust um?
Das war ein sehr schwerer Verlust für mich, ein Schicksalsschlag. Annelie war für mich Lebensmittelpunkt und mein Lebenselixier. Ein Jahr vor ihrem Tod hatte mich Annelie noch überredet, mich nicht aus dem Berufsleben zurückzuziehen, natürlich auch, weil sie PH-Rektorin war und ich dann sozusagen "untergebracht" bin. Später war ich froh über die Entscheidung weiterzumachen.
Ihre Frau hat sich an der PH für die Inklusion im Unterricht stark gemacht …
Ja, dieses Thema lag ihr sehr am Herzen und wurde bei uns zu Hause oft diskutiert. Es freut mich sehr, dass ich noch heute zur Pädagogischen Hochschule intensive Kontakte habe und zu vielen Veranstaltungen eingeladen werde. Meine Frau hatte als junge Rektorin zunächst Pionierarbeit zu leisten, da die Hochschule bei ihrem Amtsantritt – was ihr nicht bekannt war – erheblich verschuldet war.
Und Sie haben Ihrer Frau geholfen?
Nein, ich habe ihr lediglich Tipps gegeben, zum Beispiel sich täglich den Finanzstatus vorlegen zu lassen und für Transparenz zu sorgen. Wie auch im Sport ist sie die Probleme mit Energie angegangen.
Apropos Sport: Wo stehen da die deutschen Tennis-Damen? Als Erster Vorsitzender des HTC haben Sie die Erste Damenmannschaft gefördert, der auch Steffi Graf und Anke Huber angehörten.
Wir hatten schon immer eine gute Erste Damenmannschaft und gute Trainer, zum Beispiel Boris Breskvar. Anlässlich meines 50. Geburtstages regte Boris Breskvar an, unsere Mannschaft zu verstärken. So kam Steffi Graf im Alter von zwölf Jahren zum HTC, da ihr Vater der Meinung war, dass die Erste Damenmannschaft von Grün-Weiß Mannheim für seine Tochter zu schwach sei. Auch gelang es mir, dass der Karlsruher Tennisverein seine Spitzenspielerin Hanna Strachonova – damals Nr. 44 der Weltrangliste – für den HTC freigibt. So waren wir plötzlich spitze und die Erste Damenmannschaft des HTC wurde in den nächsten 17 Jahren zehnmal Deutscher Meister und fünfmal Deutscher Vizemeister. 1997 mussten wir die Erste Damenmannschaft zurückziehen, da wir uns ganz auf die Verlegung der Platzanlage des HTC zu konzentrieren hatten. Allgemein lässt sich sagen, dass sich bei den deutschen Tennisdamen viele Talente befinden, wie zum Beispiel Angelique Kerber. Natürlich können sich diese nicht mit Steffi Graf messen, eine der wohl besten Spielerinnen der Welt.
Hat Hansi Flick Ihrer Meinung nach das Potenzial, mit der Nationalmannschaft den WM-Titel im Fußball zu holen?
Ja, das sieht gut aus. Hansi Flick traue ich mehr zu als seinem Vorgänger in der Schlussphase – wobei Jogi Löw wirklich große Erfolge hatte, aber zum Schluss eine Nachfolge wohl notwendig wurde.
Zum Schluss: Was braucht es, dass Sie jemanden vertrauen?
Dass jemand sein Wort hält.



