Landesparteitag der Grünen

"Es geht nicht ums Ego, es geht um Wirkung"

Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist jetzt offiziell Grünen-Spitzenkandidat zur Landtagswahl. Eigentlich beschäftigt ihn Corona.

13.12.2020 UPDATE: 14.12.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 11 Sekunden
Blumen in der ansonsten fast leeren Parteitagshalle: Ministerpräsident und Spitzenkandidat Winfried Kretschmann (M.) mit den Parteichefs Oliver Hildenbrand (l.) und Sandra Detzer. Foto: Marijan Murat

Von Sören S. Sgries

Reutlingen/Heidelberg. "Schlichtweg absurd": So urteilt Winfried Kretschmann gerne Fragen und Sachverhalte ab, die er nicht nachvollziehen kann. Beispielsweise wenn von jungen Klimaschützern nachgebohrt wird, ob die Grünen nun eigentlich das Klima retten oder nur Regieren wollten. "Schlichtweg absurd" mag dem grünen Ministerpräsidenten auch der Landesparteitag seiner Partei an diesem Wochenende vorgekommen sein – auch wenn er das so natürlich nicht offen sagt.

Doch was den 72-Jährigen eigentlich beschäftigt, auch mehr beschäftigen muss als die innerparteilichen Entscheidungen, die eigene Kür zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2021, das kommt schon deutlich durch, als er sich am Samstagvormittag in einer rund 40-minütigen Rede an die Partei wendet.

"Gesundheit und Leben der Bevölkerung stehen für mich an erster Stelle", sagt er. Und: "Es ist gerade nicht einfach für mich, über die Wahl zu sprechen". Gerade komme er aus einer ersten "Schalte" mit Ministerpräsidenten und Kanzlerin. Schlechte Nachrichten gebe es über die Lage auf den Intensivstationen. Die Infiziertenzahlen steigen wieder exponentiell. Seine Botschaft schon am Samstag: Die Gesellschaft müsse sich auf einen harten Lockdown einstellen – schon vor Weihnachten. Am Sonntag wird das dann auch offiziell verkündet.

Doch der Ministerpräsident ist Profi genug, dass er auch weiß, dass er seiner Partei mehr bieten muss als nur den verantwortungsbewussten Pandemiemanager. Er macht Mut: Die Pandemie habe "ein Verfallsdatum". Also spricht er vom Rednerpult in Reutlingen aus auch darüber, warum er eigentlich Ministerpräsident bleiben möchte. "Nicht, weil es in der Villa Reitzenstein so heimelig und schön ist", so Kretschmann. "Wir wollen regieren, um das Klima zu schützten". Und: "Es geht nicht ums Ego, es geht um Wirkung – auch über die Landesgrenzen hinaus."

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Mehr Windkraft, mehr Solaranlagen, mehr öffentlicher Nahverkehr, eine Erhöhung des CO2-Preises, der Kohleausstieg schon 2030 – der Grüne legt eine ganze Liste an Maßnahmen vor, die er umsetzen möchte. Im Wahlprogramm wird seine Partei später solche Schritte fordern. Und Kretschmann nennt nicht nur Ziele, sondern beschreibt auch seine Vision, wie diese erreicht werden könnten. Das sei nämlich, so Kretschmann, "eine Jahrhundertaufgabe für unseren berühmten schwäbisch-badischen Tüftlergeist." Ein Beispiel, das er mitbringt: senkrecht stehende Photovoltaik-Anlagen, zwischen denen auch Pflanzen wachsen und Mähdrescher fahren können. "Versteht ihr?", fragt er. "Man kann also doppelt ernten: Sonnenstrom und Grünfutter". Umweltschutz sei auch ökonomisch hochattraktiv.

Üblicherweise hätte er für diese Rede wohl donnernden Applaus kassiert. Doch in der Halle in Reutlingen, in der über 1000 Delegierte sitzen könnten, sitzen nur rund 50 Menschen. Mit Abstand, mit Masken, vorher mit Schnelltest getestet. Aber von den Computer der über 200 Delegierten zuhause gibt es immerhin per Wahlergebnis Zustimmung: Mit 91,5 Prozent wird Kretschmann zum Spitzenkandidaten gewählt –was allerdings rund fünf Prozentpunkte weniger sind als vor der letzten Landtagswahl. "Danke auch für die Gegenstimmen, dann zweifelt niemand an, dass die Wahl korrekt verlaufen ist", kommentiert der Ministerpräsident das trocken. "Ich werde alles geben."

Mit Spannung war erwartet worden, wie sich die Parteispitze, wie sich Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand auf diesem Parteitag präsentieren würden. Sie hatten Anfang der Woche mit scharfen Attacken auf den Koalitionspartner CDU ("Klotz am Bein") für Unmut gesorgt – nicht nur bei den "Schwarzen", sondern dem Vernehmen nach auch im Umfeld des Ministerpräsidenten.

Doch statt Mäßigung um des Koalitionsfriedens Willen gab es erneut Attacke. "Verhinderer haben in Baden-Württemberg einen Namen: CDU", legte Detzer nach. "Sie war unser Klotz am Bein, ohne den wir noch viel mehr hingekommen hätten." Und sie warb um die "Kämpfer auf der Straße", um "Fridays for Future" und Co. "Lasst uns in dieser kritischen Phase des Kampfes gegen die Klimakrise vereint kämpfen."

Denn das ist die große Sorge in der Partei: Dass das ökologische Lager zersplittert und junge Klimaschützerinnen von den Regierungs-Grünen und ihren Kompromissen so enttäuscht sind, dass der Ökopartei am Ende entscheidende Stimmen fehlen, um erneut stärkster Regierungspartner zu sein.

Genau beobachtet wurde der Landesparteitag auch aus Berlin. Bundes-Parteichef Robert Habeck, zugeschaltet für eine Videobotschaft, lobt Winfried Kretschmann als großen Ministerpräsidenten, dessen Meinungen er zwar nicht immer teile, aber der Haltung, der Überzeugungen habe. Und: Gemeinsam kämpfe man "um die Richtlinienkompetenz – erst in Baden-Württemberg, dann im Bund".

Insgesamt kann man das Gefühl bekommen, dass sich der Blick auf den knorrigen Regierungschef aus dem Südwesten gerade in Corona-Zeiten gewandelt hat. "Es ist enorm wichtig, dass in den Ministerpräsidenten-Runden mit der Kanzlerin mindestens ein grüner Ministerpräsident vertreten ist", sagt Andre Baumann, Schwetzinger Landtagskandidat und als Staatssekretär Kretschmanns "Statthalter in Berlin". Man erreicht den 47-Jährigen telefonisch. Gerade in Corona-Zeiten habe sich gezeigt, dass Baden-Württemberg "im Konzert vielleicht nicht das lauteste Bundesland" sei – aber letztlich seien viele Kretschmanns Kurs gefolgt.

Parteifreundin Franziska Brantner, Bundestagsabgeordnete aus Heidelberg, ergänzt mit Blick auf das Klimapaket: "Wenn nicht Winfried Kretschmann mit am Tisch gesessen hätte, als MP, dann hätten wir da gar nichts erreicht." Es sei eben nicht egal, ob man großer oder kleiner Partner in einer Regierung sei. "Alle schauen auf Baden-Württemberg, was die Grünen erreichen", so Brantner. "Wir machen einen knallgrünen Wahlkampf."