RNZ-Corona-Podcast - Folge 23

"Ich würde mir generell überlegen, wo ich hingehe, wann und ob ich verreise"

Heidelbergs Chefvirologe Kräusslich rät zu mehr Vorsicht und weniger Vorurteilen: Das Virus hält sich nicht an Religionsgemeinschaften.

16.10.2020 UPDATE: 16.10.2020 20:34 Uhr 5 Minuten, 41 Sekunden
Unser Gesprächspartner ist der Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg und Virologe Hans-Georg Kräusslich. Foto: RNZ

Von Klaus Welzel

Heidelberg. So ernst wie in der neuen Folge klang der wöchentliche Corona-Podcast mit Hans-Georg Kräusslich noch nie. Der Chefvirologe am Heidelberger Universitätsklinikum rät den Menschen zu mehr Vorsicht und der Politik zu mehr Verlässlichkeit: Ist ein Vorgehen einmal beschlossen, sollte man nicht nach ein oder zwei Tagen wieder neu diskutieren.

Hintergrund
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Prof. Kräusslich, wir haben Rekordzahlen bei den Neuinfektionen, es wird aber auch viel mehr getestet als im Frühjahr. Wirken die Zahlen da nicht beunruhigender, als sie eigentlich sind?

Ich finde, der Anstieg der Zahlen ist durchaus beunruhigend, vor allem der Anstieg in den letzten zwei Wochen von 2000, auf 4000 und jetzt 7000 Neuinfektionen pro Tag. Es wird zwar in der Tat mehr getestet als im Frühjahr, aber auch der Anteil der positiv Getesteten ist größer und dies zeigt einen tatsächlichen Anstieg – insofern ist das beunruhigend.

Wie viel Prozent der getesteten Personen sind denn positiv?

Das ist natürlich abhängig von der Region. Am Universitätsklinikum Heidelberg sind es im Moment ungefähr zwei bis drei Prozent der getesteten Personen. Dieser Anteil war allerdings vor einigen Wochen, im Juli und August, noch unter einem Prozent gelegen.

Und wie zuverlässig sind die Tests?

Die PCR-Diagnostik, wie wir sie durchführen, ist sehr zuverlässig. Es gibt natürlich keinen absolut sicheren Test, der nie etwas falsch anzeigt, aber die Trefferquote liegt bei über 99,9 Prozent – das heißt, unter 1000 Getesteten findet sich weniger als einer, der ein falsches Testergebnis bekommen würde.

Wie sieht es bei den Erkrankungen aus? In Heidelberg sind derzeit acht Corona-Patienten stationär aufgenommen, zwei davon intensiv. Steigt auch hier die Kurve bei den Neuaufnahmen an?

Wir sehen bisher noch keinen deutlichen Anstieg der Erkrankten. Es ist etwas mehr als im Sommer, wo wir Tage und Wochen ohne Covid-19-Patienten am Klinikum hatten. Aber man muss auch sagen, dass der schwere Verlauf sich meist erst ein bis zwei Wochen nach Beginn der Symptome zeigt, die aktuelle Steigerung der Neuinfektionen sich also noch nicht voll auswirken kann. Bundesweit ist die Zahl der Patienten, die intensiv behandelt werden müssen, in den letzten zwei Wochen um 30 bis 50 Prozent gestiegen. Leider ist zu befürchten, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird.

Durch die Herabsetzung des Grenzwertes von 35 Neuinfizierten auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen wurde auch Heidelberg zum Hotspot. Sollten die Menschen deshalb jetzt noch vorsichtiger sein als bisher?

Die Reduktion des Grenzwertes von 50 auf 35 ist darauf zurückzuführen, dass die Kurve der Neuinfektionen in der Regel schnell ansteigt, wenn man erst einmal die 35 überschritten hat. Insofern soll hier ein verbessertes Frühwarnsystem etabliert werden, mit veränderten Kenntnissen über die Krankheit oder die Schutzmaßnahmen hat das jedoch nichts zu tun. Es ist sehr zu hoffen, dass das Erreichen des Grenzwerts möglichst viele Menschen motiviert, sich an die bekannten Regeln halten, um sich und andere bestmöglich zu schützen. Und natürlich ist die Höhe des Grenzwerts insofern relevant, weil es ein Bußgeld gibt, wenn ich mich nicht daran halte.

Sollte man Mannheim oder Frankfurt besser meiden, weil die Entwicklung dort noch rasanter verläuft?

Ich würde mir generell überlegen, wo ich hingehe, wann und ob ich verreise – ist diese Urlaubs- oder Geschäftsreise wirklich nötig? Muss ich das jetzt machen? Hat das eine sehr hohe Bedeutung für mich, weil ich dort etwas Wichtiges zu tun habe? Oder ist es vermeidbar? Ich persönlich vermeide derzeit alle Reisen oder Aufenthalte, die ein höheres Risiko mit sich bringen, soweit irgend möglich; das schützt mich und schützt andere. Dabei sollte man nicht sklavisch auf die Zahl 50 oder 35 schauen.

Jede Regelung muss einen Grenzwert als Auslöser haben, wenn sie nicht willkürlich sein soll, in diesem Fall die Zahl 50. Ansonsten würde gegebenenfalls der Landrat oder Bürgermeister nach Gutdünken entscheiden müssen. Ob wir aber 63, 51 oder 47 Neuinfektionen in den letzten sieben Tage hatten, ändert das Risiko nicht entscheidend. Ich würde in Regionen, in denen es viele Infektionen gibt, nur dann fahren, wenn es entsprechend wichtige Gründe gibt und würde mich auf jeden Fall entsprechend schützen. Es ist bei steigenden Fallzahlen aber damit zu rechnen, dass wir immer mehr Risikogebiete ausweisen werden, und dann – zumindest in manchen Bundesländern – mehr Risikogebiete als Nichtrisikogebiete haben werden.

Damit befinden wir uns schon mitten in der Föderalismusdebatte. Sehen Sie in den unterschiedlichen Regelungen der Länder als Virologe ein Problem?

Das kann man in zwei Richtungen beantworten: Ich kann sehr gut verstehen, dass man angesichts sehr unterschiedlicher Fallzahlen, sowohl was die Neuinfektionen als auch was die Kranken und Intensivpatienten betrifft, in unterschiedlichen Regionen der Bundesrepublik unterschiedlich vorgeht. Wenn ich in Mecklenburg-Vorpommern fast keine Fälle und fast keine Neuinfektionen habe, ist die Sicht auf die Pandemie und die Sicht auf die notwendigen Maßnahmen anders, als wenn ich in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg oder in Bayern Regionen mit hohen Fallzahlen habe.

Auf der anderen Seite ist aber der aktuell laufende und chaotisch wirkende Streit zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundesregierung absolut schädlich und führt zu Verdruss, Irritation und Unverständnis in der Bevölkerung, aber auch bei uns. Es ist nicht hilfreich, wenn gemeinsam getroffene Beschlüsse eine Halbwertszeit von ein bis zwei Tagen haben. Ich glaube, dass das Fehlen abgestimmter und gemeinsamer Strategien und Vorgehensweisen für die weitere Entwicklung der Pandemie schädlich sein wird und die Politik hier eine hohe Verantwortung hat. Dabei muss nicht überall gleich gehandelt werden, aber es muss ein klares, gemeinsames Bekenntnis geben, welche gemeinsamen Regeln wir haben und auf welcher Grundlage an verschiedenen Orten unterschiedlich gehandelt wird. Und dieser Konsens muss dann auch Bestand haben.

Ein Beispiel?

Ein Beherbungsverbot, das jeden Tag angepasst wird, weil z.B. einzelne Bezirke in Berlin Risikogebiet sind und andere nicht und sich dies am nächsten Tag ändert, kann für niemanden verständlich sein. Es ist aber wirklich notwendig, stringente Regeln tatsächlich einzuführen und umzusetzen, um die Pandemie einzudämmen. Aber wie will ich stringente Regeln überzeugend vermitteln, wenn sich die Vielen im Rahmen der föderalen Diskussion ständig widersprechen?

In Berlin wurde die Sperrstunde von einem Gericht gekippt. Sperrstunden sind auch umstritten, weil es nicht nachvollziehbar erscheint, wieso das Virus sich daran halten sollte. Wie stehen Sie dazu, wenn solche Maßnahme jetzt gerichtlich gekippt werden?

Ich glaube, es steht dem Virologen und Arzt nicht an, über Gerichtsentscheidungen ein Urteil zu fällen.

Aber Sie können sagen, ob Sie die Sperrstunde als notwendig im Kampf gegen das Coronavirus erachten ...

... absolut notwendig ist sie nicht, aber im Zusammenspiel kann sie hilfreich sein! Die Sperrstunde entspringt, wie viele andere Maßnahmen, dem Bemühen, das Zusammenkommen von vielen Menschen in engeren Räumen über einen längeren Zeitraum zu reduzieren. Es ist also sicher keine Maßnahme, die das Problem alleine lösen kann, aber im Rahmen eines Gesamtpaketes kann sie durchaus geeignet sein, die Fallzahlen zu reduzieren.

Die eigentliche Virensaison für Erkältungen kommt im Dezember/Januar. Gilt das auch für das Coronavirus?

Pandemien unterscheiden sich üblicherweise von den saisonalen Grippeerkrankungen dergestalt, dass sie sich nicht so sehr an die jahreszeitliche Häufung halten.

Vermuten Sie, dass die Zahlen im kommenden Frühsommer – auch verhaltensbedingt – wieder zurückgehen?

Ich bin sicher, dass spätestens zum kommenden Frühjahr/Frühsommer die Zahlen heruntergehen werden. Bis zum April sind es jedoch noch sechs Monate und das ist viel zu lange, um darauf zu warten. Wenn wir die aktuell steigenden Fallzahlen anschauen, wenn wir die Länder um uns herum betrachten – etwa Frankreich mit täglich 30.000 Neuinfektionen – dürfen wir es uns nicht leisten, darauf zu hoffen, dass es irgendwie wieder besser werden wird, sobald es warm wird.

Solange wir uns im Winter und damit viel in Innenräumen befinden: Wie schätzen Sie die Gefahr der aerosolen Übertragung, also den Flug leichter Tröpfchen, ein?

Aerosole und Tröpfcheninfektion – das ist eine Diskussion, die wir seit Beginn der Pandemie führen. Im Grunde sind beides Tröpfchen, sie unterscheiden sich in der Größe. Aerosole sind deutlich kleiner und halten sich als Schwebeteilchen in der Luft. Aerosole können das Virus enthalten und wohl auch übertragen, aber den relativen Beitrag kennen wir nicht genau. In geschlossenen Räumen steigt aber die Wahrscheinlichkeit der Übertragung durch Aerosole, im Freien werden sie schneller verweht, sind also weniger schädlich. Tröpfchen dagegen übertragen drinnen und draußen das Virus in ähnlicher Weise, wenn man keinen Abstand hält oder sich durch eine Maske schützt.

In den letzten Wochen war immer wieder von Großhochzeiten als Pandemietreiber die Rede – sind damit vor allem türkische Hochzeiten gemeint? Wie verhalten sich diese zu den anderen Events wie private Partys?

Man sollte das keinesfalls am Anlass der Veranstaltung festmachen und annehmen, eine Hochzeit sei gefährlicher als z.B. eine Abschlussparty. Wir haben auch vermehrt Infektionen in Bibelschulen gesehen. Wir müssen unbedingt vermeiden, irgendwelchen Bevölkerungsgruppen, Religionsgemeinschaften oder sonstigen Strukturen eine Schuld zuzuweisen. Jeder längerfristige Aufenthalt von mehreren Personen ohne die entsprechenden Schutzmaßnahmen und gegebenenfalls bei schlechter Belüftung erhöht das Infektionsrisiko, wenn eine infizierte Person teilnimmt. Ob das jetzt deutsche, englische, türkische oder amerikanische Hochzeiten, Examensfeiern, Geburtsfeiern oder Bibelkreise sind, ist vollkommen egal. Das Virus hält sich nicht an Religionsgemeinschaften.