100 Jahre Weltkriegsende

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Am 11. November 1918 endete der Erste Weltkrieg - Weimarer Republik stand jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern

05.11.2018 UPDATE: 11.11.2018 06:00 Uhr 4 Minuten, 2 Sekunden

Stellungskrieg: Ein deutscher Soldat im April 1915 in einem Schützengraben vor der belgischen Stadt Ypern. Archiv-Foto: dpa

Von Harald Raab

Weimar. "Dieser Krieg ist ein furchtbarer Betrug." Schonungslos entlarvte bereits 1914 die Bildhauerin Käthe Kollwitz den Ersten Weltkrieg als die große Schlachtbank, zu der die Völker geführt wurden. Ihr Sohn Peter gehörte zu den ersten der 20 Millionen Toten dieses technisierten Massenabschlachtens.

Auch 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bleibt die Frage unbeantwortet: Wieso ließen sich Menschen wie Kälber in die Blutszenarien wahnwitziger Schlachten führen? Waren es wirklich nur vaterländische Besoffenheit und falsches Pflichtbewusstsein bei den Deutschen? Oder gab es auch andere, eigennützige Motive - nicht nur der Eliten?

Begonnen hat es mit einem Selbstbetrug der militärischen Führung, in Berlin, Wien, Paris, London und St. Petersburg. Man war der Überzeugung, dass Kriege noch führbar wären - obwohl man um die ins Monströse gesteigerte Feuerkraft der Waffen wusste. Die Beschwichtigungsformel hieß: kraftvolle Schläge, schneller Sieg statt zermürbender Abnützungskrieg. Der zweite Betrug war: In jedem Land wurde dem Volk eingeredet, man sei vom Gegner zu einem Verteidigungskrieg gezwungen worden.

Wer aber trägt Schuld am Ausbruch des Krieges? Wer hat angefangen?

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Der australische Historiker Christopher Clark hat den Deutschen die Entlastungsformel geliefert: In den entscheidenden Wochen vor Kriegsbeginn seien die Verantwortlichen aller Länder wie "Schlafwandler" in die Katastrophe gestolpert. Damit schien die vom Versailler Vertrag und erneut in den Sechzigerjahren von Fritz Fischer aufgestellte These von der deutschen Alleinschuld widerlegt.

Die Wahrheit liegt in der Mitte. Der Historiker Gerd Krumeich konstatiert ein Sowohl-als-auch: "Die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn tragen die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sie haben das Pulverfass in Brand gesteckt. Es liegt aber keineswegs an ihnen allein, dass sich die Masse an Brennstoff hat ansammeln können."

Die Sarajevo-Krise nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 wurde nicht nur schlecht gemanagt, sondern bewusst dazu genutzt, um Russlands Kriegs-Bereitschaft herauszufordern. Der Zar machte als erster am 30. Juli 1914 mobil.

Nachdem der Schlieffen-Plan bereits im September 1914 gescheitert war und Frankreich nicht im Handstreich niedergerungen werden konnte und erst recht als der mörderische Stellungskrieg im Westen Millionen Opfer forderte, hätte man in Friedensverhandlungen eintreten müssen. Warum tat man es nicht?

Die Oberste Heeresleitung, die mit Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff an der Spitze als Militärdiktatur agieren konnte, hat noch bis zum Sommer 1918 die Parole ausgegeben, man könnte einen "Siegfrieden" erreichen. Konnte oder wollte man die unausweichliche Katastrophe nicht sehen? Zwei Gründe sind hier zu nennen. Zum einen wusste man genau: Bei einer Niederlage waren die Monarchie und die sie tragenden Kreise mit ihren Privilegien am Ende. Den Druck von unten auf soziale und politische Veränderung fürchtete man mehr als weitere Kriegstote.

Zum anderen war der Krieg auf Pump geführt worden. Noch im März 1918 wurde die achte Kriegsanleihe gezeichnet. Fast 15 Milliarden Mark steckten betuchte Deutsche in diese Papiere. Stattliche Zinsen waren versprochen. Diese Rechnung konnte nur bei einem Sieg aufgehen. Dazu fantasierte man sich utopische Kriegsziele: Vormacht Deutschlands in Europa, erhebliche Gebietszuwächse mit Wirtschaftshegemonie und neue Kolonien.

Am 29. September 1918 teilte General Ludendorff Kaiser Wilhelm II. mit, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen sei. Der Monarch und die Militärführung stahlen sich aus der Verantwortung. Sie überließen es den politischen Parteien des Reichstags, das Chaos zu managen und Friedensverhandlungen zu führen. Die Politiker hatten in der Stunde des Zusammenbruchs keine Wahl. Es wurde kaum noch produziert in den Betrieben, die Menschen hungerten und demonstrierten auf den Straßen. Die Matrosen der Kriegsmarine weigerten sich, in letzter Stunde in einer finalen Seeschlacht geopfert zu werden. Es brachen überall Revolten aus.

Am 9. November 1918 verkündete der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstags das Ende der Monarchie und den Beginn der "Deutschen Republik". Einen Tag später wurde unter der Bezeichnung "Rat der Volksbeauftragten" eine provisorische Regierung gebildet. Vorsitzende waren Friedrich Ebert von der SPD und Hugo Haase von der USPD.

Um Deutschland vor dem Schicksal Russlands und einer bolschewistischen Machtübernahme zu bewahren, ging Ebert einen Pakt mit den Militärs ein. Er nahm das Angebot des neuen Chefs der Obersten Heeresleitung, Wilhelm Groener, an, mit Freiwilligenverbänden linksradikale Aufstände der Spartakusgruppen niederzuschlagen.

11.11.1918, Frankreich, Paris: Amerikanische Soldaten jubeln mit den Bürgern, als die Nachricht über den Waffenstillstand nach dem 1. Weltkrieg 1918 bekannt wird. Foto: dpa

Am 11. November wurde im Wald von Compiègne, nördlich von Paris, der Waffenstillstand unterzeichnet. Am 19. Januar 1919 fand die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar statt. Am 3. Februar wurde Ebert zum ersten Reichspräsidenten gewählt.

Die Weimarer Republik jedoch stand von Anfang an unter einem denkbar ungünstigen Stern. Es waren gewaltige Aufgaben zu bewältigen: Rückführung der Truppen, Demobilisierung, Wiedereingliederung der Millionen Männer in den Arbeitsprozess, Versorgung der Kriegsversehrten, der Witwen und Waisen, Ernährung der Bevölkerung, Umstellung der Kriegswirtschaft auf Friedenserfordernisse, Beherrschung einer zerrütteten Finanzlage und nicht zuletzt Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung.

Eine der größten Hypotheken aber war der Versailler Friedensvertrag. Er schrieb dem Deutschen Reich die Alleinschuld an dem Krieg zu. Es verlor ein Siebtel seiner Fläche und zehn Prozent seiner Bevölkerung. Ungeheure Reparationssummen mussten bezahlt werden.

Um die Kriegsschulden beim eigenen Volk loszuwerden, verlegte man sich nicht wie in Großbritannien auf Steuererhöhungen. Es kam zu einer Hyperinflation, durch die alle Besitzer von Kriegschuldverschreibungen quasi enteignet wurden. Kostete bei Kriegsbeginn ein US-Dollar 4,20 Reichsmark, so waren 1923 dafür schon wahnwitzige 44,2 Milliarden zu berappen.

Um all das zu bewältigen, konnten die Sozialdemokraten den Staats- und Gesellschaftsapparat nicht neu besetzen. Sie waren auf die alten Funktionsträger angewiesen. Man bediente sich einer der Demokratie gegenüber ablehnenden Beamtenschaft und der kaiserlichen Offiziere, der alten Justiz. Unangetastet blieben Industrie und Großgrundbesitz.

Die Verfassung, die sich die Weimarer Republik gab, hatte eklatante Schwächen. Sie trug den Keim in sich, die Republik abschaffen zu können. Dem Reichspräsidenten waren per Notverordnungen Mittel zu diktatorischem Handeln gegeben. Grundrechte der Bürger konnten außer Kraft gesetzt werden.

Eine zerrüttete Gesellschaft, wirtschaftliche Not, durch den Krieg brutalisierte Männer: In dieser explosiven Gemengelage regierten die Extreme - auf der Straße und im Reichstag. Rechte und linke Schlägertrupps lieferten sich Straßenschlachten. Adolf Hitlers Karriere ist nur durch diese Misere zu erklären. Die Notlage wäre zu meistern gewesen, wenn die konservativen Eliten nicht geglaubt hätten, sich Hitlers Popularität bedienen zu müssen. Hindenburg berief 1933 den NS-Führer ins Amt des Reichskanzlers.

Zu bilanzieren ist: Ein wirklicher, das heißt radikaler Neuanfang nach 1918 ist verpasst worden. Die Weimarer Republik mit dem Antidemokraten Hindenburg als Präsident (1925 - 1934) war nichts anderes als ein teils engagierter, teils halbherziger und zu einem großen Teil auch bekämpfter Versuch, in Deutschland Demokratie einzuführen.