1899 Hoffenheim gegen Schalke 04

Orgie in Narhalla

Die TSG Hoffenheim schockt den selbst ernannten Karnevalsverein von Mainz 05 und will morgen gegen Schalke 04 nachlegen.

21.09.2017 UPDATE: 22.09.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 36 Sekunden

Bereit für den finalen Applaus: Hoffenheims Rupp (v.l.), Nordtveit, Hübner und Geiger feiern das späte 3:2 von Uth (verdeckt). Foto: APF

Von Joachim Klaehn

Mainz. Unterschiedlicher hätte die Gefühlslage am Mittwochabend zu später Stunde kaum ausfallen können - nach einem Fünf-Tore-Spektakel, das sich irgendwo zwischen den Parametern Fußballdrama und Fußballglück hin und her bewegte. "Es fühlt sich sehr, sehr frustrierend an", räumte FSV-Trainer Sandro Schwarz (38) im Stadionbauch nach dem 2:3 (2:2) seiner Nullfünfer gegen die TSG 1899 Hoffenheim ein, "das Ergebnis steht in keinem Verhältnis zu unserer Leistung." Sein Pendant Julian Nagelsmann (30) auf Hoffenheimer Seite vermochte die Gedankengänge des Mainzer Amtskollegen gewiss nachzuvollziehen. "Wie analysiert man so ein verrücktes Spiel?", stieg er sensibel mit einer rhetorischen Frage in die Nachbetrachtung ein, "wir hatten den Lucky-Punch-Moment und Mainz eben nicht. Deshalb haben wir gewonnen."

In der fünfminütigen Nachspielzeit verfiel der selbst ernannte Karnevalsverein nach dem Treffer von Mark Uth (90.+3) endgültig in Schockstarre, während die Kraichgauer am liebsten den legendären Narhallamarsch, ein Kernstück der "Meenzer Fassenacht", angestimmt hätten. An der Eckfahne, unmittelbar vor der 1899-Gästekurve, bildete sich jedenfalls eine Jubeltraube, die Passion, Ekstase, ja Delirium ausdrückte. Uth, immer für ein Törchen gut, wurde vom eigenen Kollektiv fast erdrückt vor lauter Hingabe. Und Benjamin Hübner, der beim benachbarten SV Wehen Wiesbaden sozialisiert und groß wurde, posierte wie ein Opernstar beim finalen Applaus auf der Bühne.

Ähnlich in Szene gesetzt hatte sich zuvor dessen Hoffenheimer Teamkollege Sandro Wagner. Ihm war das 2:2 (45.+1) per wuchtigem Kopfball Richtung Winkel in der Nachspielzeit der ersten Hälfte gelungen - und zu solchen orgiastischen Wagner-Festspielen scheint häufig das Prinzip der Erhöhung zu gehören. Er genoss den Augenblick ausgiebig, breitete die Arme wie Jesus aus, nickte bestätigend Richtung Mainzer Kurve. Eine provokante Geste - spätestens seit seinem Intermezzo beim hessischen Rivalen SV Darmstadt 98 ist der 1,94 Meter messende Hüne der Buhmann im Mikrokosmos von Rot-Weiß.

Wagner liebt das. Er weiß haargenau, wie und wann er polarisiert. Die Schwarz-Schützlinge aber hatten gerade durch Wagners Torpedo einen Knacks abbekommen. Sie marschierten leidenschaftlich, sie dominierten, lagen nach den Treffern von Danny Latza (6.) und Yoshinori Muto (16.) flott 2:0 vorne - und wähnten sich womöglich in trügerischer Sicherheit, ehe Nadiem Amiri (23.) den ersten Nadelstich setzte. Zur Verblüffung aller 23.477 Besucher in der Opel Arena. "Nach dem 2:1 haben wir ein bisschen den Faden verloren", gab Schwarz zähneknirschend zu.

Im Vergleich dazu biss sich Hoffenheim mit zunehmender Dauer in die teilweise nicklige Partie unter der großzügigen Regelauslegung von Schiedsrichter Manuel Gräfe rein. Die Gäste wurden sukzessive stabiler, ohne zu glänzen. Und Nagelsmann, dieser mutige "Bankangestellte", setzte nach dem Pausengang vermehrt auf seine Sturm-und-Drang-Abteilung, wechselte mit Kerem Demirbay, Andrej Kramaric und Dennis Geiger offensiv ein.

Dies sollte ein Signal für Mainz 05, vor allem aber für die eigenen Ballvirtuosen sein. "Hoffe" zeichnete sich nach den unbefriedigenden Resultaten gegen Braga (1:2) und Berlin (1:1) in der Domstadt durch unbedingten Siegeswillen aus. "Bei der aktuellen Belastung ist die Mentalität noch wichtiger als die Qualität", sagte Nagelsmann.

"Mainz scheint für uns zu einer Mentalitätsprüfung zu werden", ergänzte TSG-Manager Alexander Rosen und dachte auch ans aufregende 4:4 vom letzten Jahr. Der letztjährige Doppelpack gegen Mainz 05 und Schalke 04 (2:1 nach 0:1-Rückstand) wurde später gar zu einer Art Erweckungserlebnis deklariert. Wenn die "Nagelsmänner" am Samstag (15.30 Uhr/Sky) in Sinsheim im Duell mit den Königsblauen gleich nachlegen, könnte sich der Positivtrend ähnlich entwickeln. "Wir wissen", ließ Kevin Vogt den spannenden Mittwochabend-Spielfilm Revue passieren, "dass wir stets die Qualität haben, um Tore zu machen."

Alle Hoffenheimer waren glücklich, das Ding in Mainz gedreht zu haben. Zuvorderst Wagner, der Verwandlungskünstler. "Die FSV-Fans mögen mich", sagte er in den Katakomben, ohne die geringste Miene zu verziehen, "wenn mein Vertrag ausläuft, werde ich mich hier bewerben." Er habe auf dem Spielfeld vielleicht ein "bisschen exzessiv gejubelt, aber nichts Böses gemacht." Welch ein Schelm!

Wie dem auch sei: Die 95 Minuten beim "Klub der Karnevalisten" waren strapaziös und nichts für schwache Nerven. "Ich bin froh, dass wir nur zweimal gegen Mainz spielen. Sechsmal in einer Saison könnte ich das nicht", sprach Nagelsmann offen über seinen Gefühlshaushalt. Emotional ordnete dies Sandro Schwarz ähnlich ein - freilich aus gänzlich verschiedenen Gründen.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.