Von Alexander Wenisch
Als mir kürzlich ein Foto meiner Kindergartengruppe in die Hände fiel, war ich erstaunt: Alle Kinder sahen irgendwie ähnlich aus. Latzhosen, Oberteile so bunt wie der Wasserfarbkasten, offensichtlich von den Müttern quergeschnittene Struwwelfrisuren. Wer da jetzt Mädchen, wer Junge ist, konnte man auf den ersten Blick kaum erkennen.
Heute sehen Kinderwelten anders aus als in den späten 70ern. Eine Maginot-Linie teilt die Geschlechter optisch: Mädchen in Pink und Rosa, Jungs in Blau und Grün. Glitzer und Rüschen verwandeln die Trägerinnen in kleine Prinzessinnen - die Jungenpullover sind mit Autos oder Dinosauriern bedruckt. Für mehr Abwechslung - oder einfach nur neutrale, unbedruckte Pullis - muss man lange suchen; in den preiswerten Klamottenläden wird man selten fündig.
Aber die Geschlechterklischees machen bei der Kleidung nicht halt: Es gibt mittlerweile lila Lego-Minnie-Mäuse, pinke Playmobil-Modeboutiquen und rosa Mädchen-Überraschungseier. Bei den Jungs wimmelt es von sprechenden "Cars" und "Dino Dans" Abenteuern. Ach, und "Lillifee" und "Bob der Baumeister" nicht zu vergessen. Man muss sich nur mal in einschlägigen Spielzeugabteilungen umschauen. In der rosa Ecke gibt es Kosmetik, Koch- und Putzgeräte. In der blauen Hälfte Autos, Waffen, Handwerk. Die Mädchen, die hier ganz unsanft an ihre Rolle gewöhnt werden - sie sollen wohl Hausmäuschen werden, für komplexe Tätigkeiten nicht geeignet, aber dabei bitte immer schön hübsch aussehen. Und die Jungs sind die Coolen, die Eroberer, die Macher. Die vermutlich auch keinen Schmerz zeigen und bloß nicht weinen sollen.
Willkommen in den 50ern! Eigentlich dachte ich, die alten Rollenklischees seien längst überwunden. Aber sie feiern in den Kinderzimmern ein fröhliches Revival. Es ist paradox. Wo sich doch die klassische Rollenverteilung in der Gesellschaft seit Jahrzehnten immer mehr auflöst. Etwa im Beruf und bei der Kindererziehung. Chefinnen sind keine Seltenheit mehr - und es soll auch Männer geben, die daheim kochen, Wäsche waschen können und Spaß daran haben, sich um die eigenen Kinder zu kümmern.
Professor Stefan Hirschauer vom Arbeitsbereich Soziologische Theorie und Gender Studies an der Uni Mainz beobachtet diesen gegenläufigen Trend schon seit Jahren: Ein "Re-Gendering", also das erneute Vergeschlechtlichen von Dingen, die ihr gesellschaftlich zugeschriebenes Geschlecht eigentlich schon verloren hatten. Hirschauer erklärt das Phänomen so: Die sich auflösenden Rollenzuschreibungen verursachen Unsicherheit und rufen nostalgische Bedürfnisse hervor. Und so werden die Kinder für die Eltern Projektionsfläche einer "heilen Gender-Welt", in der noch klar ist: das Mädchen ist die Prinzessin, der Junge ist der Abenteurer. Die Eltern leben in den Kinderzimmern also aus, was sie sich in der Gesellschaft mühsam abzutrainieren versuchen.
"Was soll’s?", kann man fragen. "Sind doch nur Farben." Sind es aber eben nicht. Dahinter verbirgt sich ein konservatives Gesellschaftsbild. Den Vorschul- und Grundschulkindern werden Rollenklischees eingeprägt (ohne dass die Kleinen diese hinterfragen könnten), während man auf der anderen Seite Wert legt auf Mädchenförderung, Girls- und Boys-Days veranstaltet, während man Jungs gewinnen will für soziale Berufe, darauf hofft, dass sich auch junge Frauen für Ingenieurwissenschaften begeistern und es toll findet, wenn auch "unsere Frauen" Fußball-WeltmeisterInnen werden. Das ist mindestens schizophren.
Hinter den gefärbten Welten stehen aber auch ganz handfeste Interessen der Industrie. Gender ist längst ein Marketing-Konzept, dessen Rechnung ganz einfach aufgeht: Denn sind die Kinder-Konsumwelten in zwei Farben getaucht, müssen die Eltern bei der Ausstattung gegebenenfalls doppelt zahlen. Welcher Junge fährt schon gerne das Prinzessinnen-Rad der Schwester, wenn die dafür zu groß geworden ist? Die Hersteller reiben sich die Hände. Denn der Markt ist enorm: Eltern gaben 2016 drei Milliarden Euro allein für Spielsachen aus. Und Stevie Schmiedel stellt fest: "Es gab noch nie ein so starkes Gender-Marketing wie zurzeit." Schmiedel ist Gründerin der Initiative "Pinkstinks", die seit Jahren gegen Sexismus in Medien und Werbung kämpft.
Indes: Die Aufteilung in Farbwelten ist ein relativ junges Phänomen. Im 19. Jahrhundert trugen Kinder einheitlich weiß. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchten Rosa und Blau auf - wobei es zunächst die Mädchen waren, die Blau trugen, die Farbe der Königinnen und der Jungfrau Maria. Und 1918 empfahl ein amerikanisches Branchenblatt für Kinderbekleidung: Jungs sollten Pink tragen, denn dies sei eine "stärkere Farbe", die "Jungen eher entspricht".
Anfang der 60er- und 70er-Jahre beschloss die Bekleidungsindustrie, Pink zur Farbe der Mädchen zu machen, hatte aber nicht mit dem emanzipatorischen Drang der Mütter gerechnet, die genau zur selben Zeit die Aufteilung in Farben und damit Geschlechterrollen bekämpften.
Davon scheint wenig vererbt worden zu sein. 1991 kamen die ersten ultra-rosa "Baby Born"-Puppen, dann die abscheuliche "Diddlmaus", 2004 schließlich "Lillifee", die seither als Monarchin die Mädchenzimmer regiert. Ob es nun schon als emanzipatorischen Schritt zu werten ist, dass mit Disneys Eiskönigin "Elsa" die Thronfolgerin feststeht - denn die trägt ja Hellblau!?
Jetzt könnte man meinen: Okay, Mädchen stehen nun mal auf Krönchen und Glitzer, Jungs auf Autos und Sägen. Aber die auf das Geschlecht der Kunden abzielende Werbung bleibt ja längst nicht auf Kinder beschränkt. Unter "Männersachen" versteht ein österreichischer Internethändler: Motorrad, KFZ, Outdoor und Zubehör. Ein Kölner Lebensmittelladen erklärt schon mal "Einkaufen ist Frauensache" (auf eine pinke Tasche gedruckt, wie sonst?), im Supermarktregal gibt es Gewürzgurken für "Madl" und "Buben" und Chipstüten allen Ernstes als Variante "Männerabend" und "Mädelsabend".
Die Strategie dahinter: Je umkämpfter ein Markt ist, umso mehr lohnt es sich, Unterschiede zu deklarieren, um unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen. Darum gibt es Produkte für Jugendliche, Senioren, für Links- und Rechtshänder. Und eben auch welche für Jungs und Mädels - und nicht einfach nur für Kinder.
Toller Nebeneffekt für die Industrie: Produkte für unterschiedliche Zielgruppen lassen sich zu anderen Preisen verkaufen. Die Verbraucherzentrale Hamburg fand 2015 und 2016 Preisunterschiede zwischen 40 und 200 Prozent bei Kosmetika und Pflegeprodukten, aber auch von ansonsten identischen Laptoptaschen in Schwarz und Pink, von Damen- und Herrenhaarschnitten oder bei der Reinigung von Damen- und Herrenbekleidung.
Handel und Industrie geben sich angeblich wertneutral: letztlich bestimme die Nachfrage den Markt. "Eine Dampflok in Rosa wäre vielleicht kreativ", sagt Willy Fischel, Geschäftsführer des Bundesverbands des Spielwaren-Einzelhandels, würde sich wirtschaftlich aber nicht lohnen, "wenn sie keiner kauft".
Als sich mein Sohn, vier Jahre alt, vor einer Weile ein Einhorn zum Spielen gewünscht hatte, hat mich das irgendwie gefreut, weil das Klischee durchbrochen schien. (Auch wenn ich selbst diesen Firlefanz um das regenbogen-pupsende Fabelwesen verabscheue - das ist vorbereiteter Plastikmüll.) Jedenfalls war der Kleine eine Zeit lang begeistert von seinem Einhorn - bis er wohl im Kindergarten mitbekommen hat, dass das für Jungs nichts ist. Seither spielt er dort auch nicht mehr in der Puppenecke, wie er mir gerade erzählt hat. "Da gibt es nur Sachen für Mädchen."
Was passiert, wenn sich Kinder nicht ins Schema der Spielzeugdesigner fügen wollen, konnte man im März in den USA beobachten: Dort untersagte die Schulleitung einem Neunjährigen, seine Tasche mit Bildern von pink- und türkisfarbenen Ponys mit in den Unterricht zu bringen. Weil Pink nach Ansicht der Lehrer nichts für Jungs ist? Nein, weil die Schule den Pony-Fan nicht mehr vor dem Mobbing seiner Mitschüler schützen konnte.