Von Felix Hüll
Laut lärmend fährt der 19-jährige Taim Saied mit anderen frischgebackenen Abiturienten jetzt - Mitte 2030 - auf einem Anhänger durch Eberbachs Innenstadt. Wenn man die jungen Leute alljährlich so sieht, fällt es schwer zu glauben, dass sie die allgemeine Hochschulreife erlangt haben. Doch es ist so.
2011 ist Taim im syrischen Aleppo als Sohn des Arztes Ali Saied und seiner Frau Muna, einer Juristin, zur Welt gekommen (die Namen sind geändert; die richtige Identität der Familie ist der Redaktion bekannt).
Zu Beginn von Taims Geburtsjahr 2011 entwickelte sich in Syrien aus Protesten im Rahmen des damals "Arabischer Frühling" genannten historischen Phänomens ein Bürgerkrieg. In dessen Verlauf wurde auch der Wohnort der Familie Saied stark zerstört, darunter auch die Praxisräume und damit die Lebensgrundlage von Taims Vater.
Wegen seiner Bewunderung für deutsche Medizintechnik und wegen früherer Kontakte zu Deutschland wagte Dr. Ali Saied mit seiner Familie die Flucht und gelangte 2014 über Karlsruhe und Heidelberg nach Eberbach. In der Stadt kamen damals innerhalb eines Jahres von unter 300 auf über 600 Menschen hinzu. 2014 zählte Eberbach 14 462 Einwohner.
Die sich niederlassenden Neubürger stabilisierten in den Folgejahren den Rückgang der Eberbacher Einwohnerzahl etwas. Taim Saied: "Auch mein Vater hat dann versucht, schnell Fuß zu fassen und es nach Jahren auch geschafft, wieder Arbeit als Arzt zu finden." Jetzt steht er als der ältere Sohn im Frühling 2030 vor der Entscheidung, welchen Weg er als Volljähriger in seiner neuen Heimat Deutschland einschlagen will. "Es war nicht leicht, meinen Vater dazu zu bringen, dass ich nicht Medizin studieren will sondern Informationstechnologie. Wie oft hat er mir und meinem Bruder Hasan erzählt, was er und Mutter alles durchgemacht haben, um uns das zu ermöglichen."
Taim ist in Eberbach aufgewachsen, nachdem die Familie von Heidelberg her kommend eine Erstaufnahmeunterbringung des Rhein-Neckar-Kreises zugewiesen bekommen hatte. Nach einer gewissen Zeit (Taim: "Das war wohl so nach einem Jahr oder so. Ich war da noch im Kindergarten") fand Familie Saied mit Hilfe des Eberbacher Asylarbeitskreises auf dem freien Wohnungsmarkt in der Stadt eine eigene Bleibe. Die mussten sie allerdings kurz darauf wieder wechseln. Bis heute erinnert sich Taim daran, wie nervös Papa und Mama waren, weil klar war, dass sie aus der einen Wohnung wieder raus müssen, aber noch nicht wussten, welches Dach die Familie danach bekommen würde. Taim: "Ich sprech’ ja Deutsch und Arabisch, aber meine Eltern mussten als Erwachsene Deutsch hier erst in Kursen erlernen und dabei gleichzeitig gucken, wie sie Fuß fassen und einen Job finden."
Für öffentliche Unterstützung damals ist Taim dankbar. Er möchte deswegen der Gesellschaft auch etwas zurückgeben, indem er sich nach dem Abitur erst einmal für ein Freiwilliges Soziales Jahr entscheidet. Ob er dabei einen Job im neuen Dr.-Schmeißer-Stift bekommt, das seit 2020 und mit dem Anbau seit 2028 ein Haus für betreutes Seniorenwohnen ist, weiß Taim derzeit noch nicht. Dieses Schmeißer-Stift ist ihm in Erinnerung geblieben, weil seine Eltern erzählten, dass es damals als sie nach Eberbach kamen, viel Streit um dieses zentral gelegene Gebäude gab. Aber darin betrieb ein besonders engagierter Privatmann eine von Flüchtlingen viel genutzte Anlaufstelle mit Ausstattungsgegenständen.
Jetzt steigt Taim doch runter vom Feier-Wagen der 2030er-Abiturienten - die ausgelassene fröhliche Stimmung darauf passt nicht zu seinen Erinnerungen an Vaters Lehrsätze wie "Um eine gute Zukunft zu haben, musst du hart arbeiten." Und: "Hab’ ein festes Ziel vor Augen. Wenn Du das dann nicht erreichst, macht nichts. Fehlschläge passieren. Aber Du darfst nicht aufgeben, musst dann eben was Neues probieren."
Immer wieder waren Ali und Muna Saied enttäuscht von Bewerbungsgesprächen zurückgekommen, bis sie in Heidelberg und Mosbach Anstellungen fanden. Taim und Hasan mussten Eberbach nicht verlassen. Sie besuchten dort den Kindergarten, die Grundschule mit Förderunterricht und später das Hohenstaufen-Gymnasium. Das wird Taim jetzt verlassen, während sein vier Jahre jüngerer Bruder noch ein paar Jährchen abzusitzen hat. Taim: "Hasan ist hier in der Rot-Kreuz-Ortsgruppe eingestiegen und aktiv. Ich glaub, der schlägt eher nach Papa. Und dann studiert vielleicht doch noch einer von uns Medizin."