Mosbach

Inklusives Theaterprojekt feiert Premiere

In "Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck" geht es um Deportationen unter den Nationalsozialisten

20.09.2020 UPDATE: 21.09.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 6 Sekunden
Bestandteil der Uraufführung der inklusiven Theaterproduktion, war auch eine Moritat über die erste Tötungsanstalt der Nazis. Foto: Peter Lahr

Mosbach. (lah) Verschiedenste Schicksalsfäden aus unterschiedlichen Zeiten woben die Parzen am Donnerstag auf dem Mosbacher Marktplatz schließlich doch noch glücklich zusammen und ermöglichten so rund 100 Zuschauern und "Zaungästen" ein inklusives Theatererlebnis mit Tiefgang, hoher Assoziationsdichte und überraschenden Wendungen. 80 Jahre, nachdem die Nationalsozialisten 10.654 Menschen in der ersten deutschen Vernichtungsanlage auf Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordet hatten, präsentierte der Reutlinger Verein "Theater in der Tonne" mit einem 14-köpfigen, inklusiven Ensemble das selbstentwickelte Stück "Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck".

Die spartenübergreifende Produktion von Regisseur Enrico Urbanek ist ein Leader-Projekt und wurde durch die Corona-Pandemie heftig gebeutelt. Ursprünglich sollte die Premiere am 8. Mai auf dem Reutlinger Marktplatz stattfinden – als eher lose verbundener Bilderbogen, "mit Pausen und ohne Stühle", wie Projektleiter Maximilian Tremmel im Gespräch mit der RNZ erklärte. Nach dem Lockdown kam nun Mosbach in den Genuss der Premiere. Auch dieser Termin war mit Bedacht gewählt: "Der 17. September war einer der drei Jahrestage der Deportationen", so Tremmel. Bei spätsommerlichen Temperaturen und unter Einhaltung diverser Schutzmaßnahmen gelang ein modifiziertes "Gesamtkunstwerk", welches Musik, Theater, Tanz und bildende Kunst raffiniert miteinander zu einem knapp zweistündigen Schauspiel verzahnte. In weiteren 23 Orten, aus denen Menschen mit Handicap mittels der berüchtigten "grauen Busse" abgeholt wurden, will die "Tonne" bis Mitte nächsten Jahres Station machen.

Ein leises "Zicke zacke, zicke zacke, hoi hoi hoi" erklingt gleich darauf hinter dem silbermetallicfarbigen Mercedes Sprinter, der das quadratische Bühnenbild zur Stiftskirche hin abriegelt. Das Ensemble betritt in roten Overalls die "Bühne" und schraubt lose verstreute Stangen zu fahrbaren "Transportkisten" zusammen. Sie gemahnen nicht von ungefähr an Käfige.

"Die Menschen waren damals nichts wert." "Ich fand es total gruselig. Die Umgebung ist total schön, wenn man dann überlegt, was da passiert ist." Einzelstimmen beschreiben die Eindrücke des Ensembles beim Besuch von Grafeneck. Das ehemalige Jagdschloss der württembergischen Könige unweit von Münsingen beherbergt heute eine Gedenkstätte. Aber die Akteure bleiben nicht im Gestern stehen, geben auch Persönliches preis: "Mein Rollstuhl kostet 23.000 Euro. Ich koste 5000 Euro im Monat den Staat. Mich hätte man damals auch ermordet."

Die Schauspieler agieren in immer anderen Rollen, erzählen die Geschichte der Vernichtungsanlage und der verbrämenden Lügenpropaganda vielschichtig, bildgewaltig und mit Mut zu großen Emotionen. Schlagworte wie "Angst, Trauer, Kälte, Anketten, Scheuklappen, Sicherheit, Hand aufs Herz", skandiert ein antikisch anmutender Chor, der sich unisono steigert zur Demonstration des Hauptanliegens: "Respekt! Respekt! Respekt!"

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Mal gemahnt das Werk an ein Mysterienspiel, mal greift es zum Brecht‘schen Mittel der Moritat. Volkslieder bürstet das Ensemble gegen jegliche romantische Stimmlage. Enttarnt so rückwärtsgerichtete Heimattümelei – vielleicht einmal zu viel. Zwei Schreibmaschinen werden zum Symbol der tödlichen Bürokratie. Andere Symbole werden genüsslich zerlegt. So wird aus einem Hakenkreuz, das akkurat am Boden liegt, ein Hopfseil, ein Hochseil, ein Mikrofonkabel, ein Ballspiel, ein Tanzplatz.

Als Andockpunkte dienen immer wieder die fahrbaren Käfige, die zum Büro und Gefängnis mutieren, zum Bus, zum Tempel und zur Friedhofskapelle. Metallene Behälter ähneln gleichzeitig Gasflaschen und Bootsfendern. Sie halten Abstand und werden zu Urnen. Die Schauspieler ziehen darüber mit ihren Gabeln, was schrille Laute gebiert. Noch schriller ist das Schlussbild, eine groteske Alptraumfantasie, die daran gemahnt, dass einst Behinderte mit "Freaks" auf Jahrmarktschauen zu bestaunen waren. Die Spur der grauen Omnibusse führt unmissverständlich über den Laufsteg. Das Wort vom "Mondkalb" feiert eine üble Auferstehung.

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