Kinderarzt Renz-Polster: Die Kita-Erziehung wird immer funktionaler

"Eltern müssen das Recht auf Erziehung zurückfordern", postuliert Herbert Renz-Polster - Die Programm-Pädagogik in Kitas hält der Kinderarzt, der auch am Mannheimer Institut für Public Health der Uni Heidelberg arbeitet, für überflüssig

07.11.2014 UPDATE: 07.11.2014 05:00 Uhr 4 Minuten, 54 Sekunden
Unter dem Diktat des ökonomischen Wettlaufs werden Kinder immer früher auf ihren späteren wirtschaftlichen Nutzen hin erzogen, sagt Herbert Renz-Polster. Foto: dpa
Von Alexander R. Wenisch

"Eltern müssen das Recht auf Erziehung zurückfordern", postuliert Herbert Renz-Polster (54). Die aktuelle Programm-Pädagogik in Kitas und Kindergärten hält der Kinderarzt, der auch am Mannheimer Institut für Public Health der Uni Heidelberg arbeitet, für überflüssig und plädiert für eine Kindheit, "die den Namen noch verdient".

Sie plädieren dafür, dass Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern. Wer hat die Erziehung okkupiert?

Es ist ein Trugschluss zu glauben, nur weil wir als Eltern den Kindern nahe sind, würden wir auch den meisten Wind in der Erziehung machen. Die Vergangenheit zeigt: da mischen sich auch Politik, Wirtschaft oder Staat ein. Sie verfolgen ihre eigene Agenda beim Thema Erziehung - ohne, dass einem das unbedingt bewusst ist.

Zum Beispiel?

Mir laufen Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, wie unsere Großeltern und Urgroßeltern Kinder "erzogen" haben. Da waren harte Strafen Alltag, es ging um Sauberkeit, Gehorsam, Hierarchie, Disziplin. Heute sagen wir: das war brutal, unmenschlich, nicht kindgerecht. Aber der Staat gab das Ideal vor, die meisten Eltern damals hielten das für die beste Erziehung. Genau diese "richtige Erziehung" legte das Fundament für die Entgleisungen im Kaiserreich und im Dritten Reich.

Woher weht heute der Wind in der Erziehung?



Aus der Globalisierung. Unter dem Diktat des ökonomischen Wettlaufs werden Kinder immer früher auf ihren späteren wirtschaftlichen Nutzen hin erzogen. Sie sollen als Arbeitnehmer ihren Platz in der Wertschöpfungskette finden.



Wer zieht da die Fäden?

Wir nehmen alle irgendwie teil an dieser Beschleunigung. Dass aber Eltern gleich die Kinder da reinziehen, bedarf schon einer Erklärung. Da fällt auf, dass die heutige Frühpädagogik ganz stark von Programmen geprägt ist, die von großen Konzernen gerade aus den Technologie-Branchen entwickelt wurden. An 10.000 Kitas etwa wird das von Microsoft gesponsorte "Schlaumäuse"-Programm verwendet. Ein Tablet-Spiel, mit dessen Hilfe Kinder angeblich Schrift und Sprache besser erlernen können.

Ist doch wunderbar ...?

Wenn man bei Microsoft verstünde, wie Kinder sich die Sprach- und Schriftwelt aneignen! Diesen Programmen fehlt gerade das, was den Kleinen dabei am meisten hilft, nämlich der soziale und situative Kontext des Sprechens, die Möglichkeit, Lernwege gemeinsam zu gestalten. Das geht nur im Rahmen echter, menschlicher Beziehungen! Aber darum geht es bei den "Schlaumäusen" nicht. Es geht darum, einen Produktnamen bei Kindern und Eltern zu platzieren.



Gibt es mehr solche Beispiele?

Auch das "Haus der kleinen Forscher", der angebliche Cadillac unter den frühkindlichen Förderprogrammen, wurde nicht etwa auf Anregung von Erzieherinnen entwickelt, sondern basiert auf einer Idee der Unternehmensberatung McKinsey. Ich sage nicht: Die sollen das lassen. Aber ich finde, Eltern sollten schon wissen: Wenn solche Unternehmen mit viel Geld vor der Kita-Türe Schlange stehen, um sich zu engagieren, dann verfolgen die damit einen Zweck. Im Fall der "kleinen Forscher", bei denen naturwissenschaftliche Experimente im Mittelpunkt stehen, wird der auch klar benannt: Es geht um die Rekrutierung von späteren Fachkräften im naturwissenschaftlich-technischen Bereich.

Aber sind solche Programme denn nutzlos?

Ich finde, ja! Natürlich sind Kinder kooperativ und lassen sich auch auf Experimente ein. Aber das ist mir alles zu verkopft. Wir wissen heute ja nicht einmal, welche Fähigkeiten tatsächlich gefragt sind, wenn die heute so trainierten Kinder in 15 Jahren auf den Arbeitsmarkt wollen.

Seit wann beobachten Sie diese Entwicklung?



Bis in die 70er Jahre hinein herrschte in Deutschland noch eine autoritäre Erziehung. Danach rückte in der Mittelschicht das Individuelle des Kindes und seine Persönlichkeit stärker in den Fokus. Seit dann in den 90ern die Globalisierung Fahrt aufnahm, werden die Zügel wieder angezogen, die Erziehung wird funktionaler. In der Pädagogik dominieren jetzt Programme, die Kinder früh bilden, sie effektiv kognitiv entwickeln sollen. Gerade die verschiedenen Industrie- und Arbeitgeberverbände haben sich da ganz massiv positioniert.

Aber was ist falsch daran, Kinder auf Herausforderungen vorzubereiten?



Nichts. Es ist auch berechtigt, dass Arbeitgeber ihr Interesse anmelden und sagen: Wir brauchen gut ausgebildete Arbeitskräfte. Aber diese Ziele haben doch in Kitas nichts verloren! Und wenn dann auch noch Methoden des Wirtschaftsmanagements auf die Bildung übertragen werden, dann sträuben sich bei mir die Haare.

Wie geschieht das?



Dieses andauernde Vermessen von vermeintlichen Leistungserfolgen! Diese ständige Beobachtung, Dokumentation und Obsession mit Bildungs-Portfolios! Als würde das Formulieren von Bildungszielen und Absolvieren von Bildungsprogrammen die Kinder weiterbringen. Die fundamentalen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder gehen in eine ganz andere Richtung.

Was wären diese Grundbedürfnisse?



Ein Kind muss früh lernen, erstens seine Emotionen zu regulieren, muss zweitens soziales Miteinander lernen, sich drittens Stärke und Widerstandsfähigkeit gegen äußere Umstände anlegen und viertens seine Kreativität entdecken und entwickeln. Das sind für mich die Fundamentalkompetenzen der Entwicklung.

Aber gerade soziales Miteinander und Kreativität kann man doch wunderbar in Kitas erleben und lernen.

Natürlich. Nur wie denn? Das kann man einem Kind doch nicht durch Programme beibringen, und seien sie noch so klug. Das sind Erfahrungsschätze, die nur das Kind selbst heben kann. Und dazu braucht es emotionale Sicherheit, Geborgenheit und Rückhalt in Beziehungen. Und es braucht freien Entdeckungsraum, in dem sich Kinder bewähren und selbst organisieren können.

Aber gezielte Förderprogramme regen doch die kindliche Neugierde an.



Es wird oft so getan, als könne man die kindliche Neugier beliebig herauskitzeln. Aber das stimmt nicht. Das Kind stellt Bedingungen. Es wird nur dann mutig und bekommt große, wache Augen, wenn es sich wohl und sicher fühlt. Das läuft über Beziehungen, die dem Kind etwas bedeuten, in denen es sich verlässlich angenommen fühlt, das gilt für Kitas genauso wie im Elternhaus. Gestresste Kinder lernen nicht! Es wundert mich deshalb sehr, dass es heute in der Frühpädagogik so viel um Förderprogramme, Bildungsanreize und Theorien geht, und so wenig um Beziehungen und die gemeinsame Gestaltung eines spannenden, kindgerechten Alltags.

Und was bedeutet das für die ganz Kleinen, etwa in den Krippen?



Auch da wird den Eltern viel von der "frühen Bildung" erzählt, aber warum sind die Beziehungen denn so wenig Thema? Ich kenne keinen Experten, der nicht Zweifel hat, dass die Kinder dort das bekommen, was sie wirklich brauchen. Wenn eine Betreuerin in der Kita fünf Kleinkinder versorgen muss, kann das nicht funktionieren. Stellen Sie sich vor, Sie hätten daheim Fünflinge - wie intensiv könnten Sie sich wohl um jedes Kind kümmern?

Was wäre ein verlässlicher Rahmen in einer Kita?



Zum allermindesten eine Erzieherin für drei Kinder unter drei Jahren. Auf dem Papier erfüllen das ja manche Kitas. Aber die müssen dann auch konkret da sein! Wenn man Urlaubs-, Verwaltungs- und Krankheitszeiten mit einrechnet, wird das Ganze zur Mogelpackung. Wir haben uns als Gesellschaft irgendwie insgeheim darauf verständigt, diese "Beziehungsprobleme" in der frühkindlichen Erziehung nicht anzusprechen. Weil klar ist, dass wir uns "artgerechte Lösungen" nicht leisten können - oder dafür eine ganz neue Priorisierung in der Gesellschaft und Wirtschaft erforderlich wäre.

Der beste Kindergarten macht also möglichst wenig. Ziemlich altmodisch.



Glauben Sie denn, Kinder entwickeln sich heute anders als früher, nur weil wir heute irgendwelche Fachkräfte aus ihnen machen wollen? Das ist nicht altmodisch, das ist kindgerecht. Kinder sind zum Beispiel schon immer viel draußen gewesen. Gehen Sie mit denen mal an einen Bach. Die freuen sich nicht, wie romantisch das Wasser plätschert. Die wollen den Bach entdecken, erleben. Der wird schnell zum physikalischen Versuchslabor.



Aber viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind von besser erzogenen Gleichaltrigen in der Schule überholt werden.



Ich verstehe, dass bei Eltern Angst herrscht. Der Wind in der Arbeitswelt weht kalt. Viele Erwachsene müssen im Job funktionieren. Gleichzeitig wächst die Zahl der Ausgebrannten. Erst einmal innehalten, wenn wir diesen Druck jetzt an die Kinder weitergeben. Man kann nicht das Pferd von hinten aufzäumen. Kinder müssen ein tragendes Lebensfundament aufbauen. Sie brauchen dazu eine Kindheit, die diesen Namen auch verdient.