Zwischen Tradition und Moderne
Vor 50 Jahren endete der Vietnamkrieg. Wer lange Zeit nicht im Land war, erkennt es heute kaum wieder.

Von Michael Juhran
Moderne Hochhäuser, Malls mit üppigen Angeboten, Feinschmeckerrestaurants und schicke Wohnquartiere – die Metropolen Vietnams wachsen dynamisch und brauchen heute einen internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Allein das Gewusel Tausender Motorräder und die engen Gassen der Altstadt von Hanoi wecken Erinnerungen an den letzten Besuch, der eine gefühlte Ewigkeit zurückliegt. Nach 1000 Jahren unter chinesischer Herrschaft, 100 Jahren französischer Kolonialpolitik, Bürgerkrieg und dem Bombenterror des Vietnamkriegs gehört das Land inzwischen zu den dynamischsten Volkswirtschaften.
Dabei war der Start als wiedervereinter Staat nach der Einnahme Saigons am 30. April 1975 alles andere als einfach, erfährt man in Gesprächen mit Einheimischen in einem der vielen Cafés der Hauptstadt. Bis zu Beginn der 80er-Jahre litt die Bevölkerung unter Hunger, Missernten nach Überschwemmungen und einer ineffektiven zentralistischen Mangelwirtschaft. Erst mit der wirtschaftspolitischen Kehrtwende hin zur sozialistischen Marktwirtschaft ging es deutlich bergauf.
Vietnam wurde vom Reisimporteur zum zweitgrößten Exporteur des beliebten Nahrungsmittels sowie zu einem der größten Kaffeelieferanten der Welt. Internationale Hightech-, Smartphone- und Textilunternehmen entdeckten das Potenzial Vietnams mit seiner fleißigen und hochmotivierten Bevölkerung und die Regierung förderte das Investitionsklima mit niedrigen Steuern, dem Bau von Straßen und der Digitalisierung des Landes, das heute – bis auf die Gebirgsregionen – über eine Netzabdeckung von ca. 85 Prozent verfügt. 2024 produzierten Samsung, LG und einheimische Firmen 200 Millionen Handys in Vietnam.

Auf Touristen warten moderne Hotels mit ausgezeichnetem Service. Auch in der beliebten Halong-Bucht haben neue Fahrgastschiffe ihre hölzernen Vorgänger ersetzt. Der Touristenandrang aus aller Welt ist inzwischen immens. Bei Tagesausflügen durch die märchenhafte Inselwelt kann man dem Gewimmel von Booten kaum entgehen und leider treiben auch Müllinseln auf dem Wasser. Der deutsche Reiseanbieter Gebeco beginnt daher seine Rundreise "Vietnam ausführlich" mit einer dreitägigen Schiffsexkursion, die in entlegene Buchten der Cat-Ba-Insel führt, in denen sich die Romantik der mit schroffen Karstfelsen gespickten See noch nahezu ungestört genießen lässt.
Stopps bieten den Gästen Gelegenheit, die Arbeit lokaler Fischer bei der Aufzucht von Garnelen und Muscheln per Kajak aus der Nähe zu beobachten oder mit dem Fahrrad an den Reisfeldern im Inselinneren vorbeizuziehen und das Leben in kleinen Dörfern zu erkunden. Wenn auch die Verständigung nicht ganz einfach ist, freuen sich dort die Gastwirte über den internationalen Besuch und laden ihre Gäste nach dem Mahl dazu ein, sich von Fischen an kleinen Teichen die Hornhaut von den Füßen abknabbern zu lassen.
Nach einem Abstecher zu einer Bootsfahrt durch die Trockene Halong-Bucht geht es mit dem Flugzeug von Hanoi nach Da Nang, weiter per Bus nach Hoi An und über den nebelverhangenen Wolkenpass nach Hue, um in der alten Königsstadt in die Geschichte des Landes einzutauchen. Als Hue im Jahr 1802 die Hauptstadt Vietnams wurde (bis 1945), ließ König Gia Long hier ab 1804 nach dem Vorbild der Verbotenen Stadt von Peking einen mit einer elf Kilometer langen Mauer umgebenen Palast- und Tempelkomplex errichten.
Vor den in den letzten Jahren renovierten Prachtgebäuden lassen sich junge Vietnamesinnen in traditioneller Kleidung von Profifotografen ablichten, und in nahezu jedem Gebäudekomplex trifft man auf Paare und ganze Familien, die das Gelände mit ausgeliehener altertümlicher Kleidung als Fotohotspot nutzen. Das lange gestörte Verhältnis des Einparteienstaates zur royalen Vergangenheit gehört mittlerweile der Vergangenheit an, und die Pflege des kulturellen Erbes dient nun nicht zuletzt auch der Stärkung der nationalen Identität.

Genauso pragmatisch hat sich der Umgang mit dem in der Bevölkerung verbreiteten Buddhismus, Hinduismus und Taoismus gewandelt. Allerorts trifft man auf Gläubige in gut gepflegten Tempelanlagen. "Meine Landsleute schöpfen daraus Hoffnung und Optimismus für die Zukunft", erklärt Reiseleiter Hoang Bao das für einen sozialistischen Staat nicht selbstverständliche Zusammenspiel von Marxismus und Religion. "Hoffnung und Zuversicht liegen den meisten unserer Menschen im Blut", ergänzt Bao. "Ein Vietnamese lässt sich nicht so leicht unterkriegen."
Wie sehr seine Landsleute für ihren Kampf, das Schicksal ihres Landes in die eigenen Hände zu nehmen, leiden mussten, wird in Cu Chi, 35 Kilometer nördlich von Ho-Chi-Minh-Stadt deutlich. Hier sind noch Teile eines einst 280 Kilometer langen unterirdischen Tunnelsystems begehbar, in dem sich die vietnamesischen Freiheitskämpfer vor der militärischen Übermacht der US-Streitkräfte im Vietnamkrieg versteckten. In den engen, kaum durchlüfteten Erdgängen widerstanden sie dem erbarmungslosen Bombenhagel und Napalmangriffen.
"Etwa 1,3 Millionen vietnamesische Kämpfer und zwei bis drei Millionen Zivilisten verloren im Vietnamkrieg ihr Leben", fasst Bao das unfassbare Leid zusammen. Eine Million Menschen erlitten durch das damals flächendeckend von der US Air Force versprühte Pflanzengift Agent Orange schlimmste Verletzungen. Noch heute leiden Zigtausende unter den Folgen in Form von Leukämie, körperlichen Missbildungen und genetischen Anomalien.
Die Reise von Nord nach Süd führt abschließend nach Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon. Mit 10,5 Millionen Einwohnern ist die Stadt die größte Metropole und auch das wirtschaftliche sowie Handelszentrum des Landes. Riesige Wolkenkratzer dominieren das Stadtbild und die aus französischer Zeit hinterlassenen architektonischen Highlights, wie die Kathedrale Notre Dame, die Oper oder das Hauptpostamt, sind von Luxusboutiquen umzingelt.
Fährt man in Richtung Westen, öffnen sich weite Landschaften mit saftig grünen Reisfeldern. Treffend wird das mächtige Delta des Mekong auch als die Reisschüssel Vietnams bezeichnet, die dank ihres feuchtwarmen Klimas drei jährliche Ernten ermöglicht. Immer wieder begegnet man bei Bootsfahrten auf dem Mekong gewaltigen Lastkähnen, die Berge von Reis zu den am Ufer stehenden Mühlen transportieren. Erst gegen Abend ebbt der rege Verkehr ab und der Mekong zeigt sich bei einem traumhaften Sonnenuntergang von seiner romantischen Seite. Schöner kann ein Abschiedsabend kaum sein.
> Infos:
> Anreise: Vietnam Airlines fliegt direkt von Frankfurt nach Hanoi (elf Stunden) oder nach Ho-Chi-Minh-Stadt (knapp zwölf Stunden), hin und zurück ab ca. 900 Euro: https://www.vietnamairlines.com/de
> Einreise: Es genügt ein noch mindestens sechs Monate gültiger deutscher Reisepass.
Beste Reisezeit: Von November bis April sind die Temperaturen moderat, generell aber im Norden niedriger als im Süden.
> Reisen im Land: Eine Zugreise von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt über die gesamte 1144 Kilometer lange Strecke dauert ca. 32 bis 35 Stunden. Mit einem Überlandbus muss man mit ca. 40 Stunden rechnen. Schneller und bequemer geht es per Flugzeug. Inlandflüge sind günstig.
> Veranstalter: Z. B. Gebeco, Reise von Hanoi bis Ho-Chi-Minh-Stadt "Vietnam ausführlich", 16 Tage, inkl. Drei-Tages-Kreuzfahrt durch die Halong- und Lan-Ha-Bucht, ab 3455 Euro:
www.gebeco.de/reisen/vietnam-ausfuehrlich
Viele weitere Reiseveranstalter bieten eigene Pauschalreisen an.