Im Reich des Kreidefelsenkönigs
Auf der dänischen Insel Møn und in Südseeland können Besucher Fossilien entdecken - und mitnehmen

Von Ingeborg Salomon
Møn. Er ist wieder da: Scrat, das Säbelzahn-Eichhörnchen, das in den diversen Folgen des Computer-Animationsfilms "Ice Age" das Publikum verzaubert hat, erlebt eine Wiederauferstehung in Dänemark. Jedenfalls sieht ihm "Lucky", das Maskottchen des Stevns Klint Experience Centers in Südseeland, verflixt ähnlich. Das ist natürlich kein Zufall, denn "Scrat" ist der ultimative Überlebende der Eiszeit und "Lucky" ist ebenfalls ein "good surviver", wie Anne Rosell Holt den Besuchern erklärt.

Die Dauerausstellung in dem vor einem Jahr eröffneten Erlebniscenter führt Besucher höchst anschaulich in die Erdgeschichte zurück. Unvorstellbar weit zurück, nämlich 63 Millionen Jahre in die Vergangenheit, als ein Meteor auf der Halbinsel Yucatan in Mexiko einschlug. Gewaltige Druckwellen entwickelten sich zu Tsunamis, das Meer kochte, die Temperaturen sanken, und die Sonne wurde zehn Jahre lang von einer Aschewolke verdeckt. Ohne Sonne kein Leben: Die Dinosaurier starben aus. Doch neues Leben entstand, und der putzige "Lucky" ist der Beweis.
Nicht streng wissenschaftlich natürlich, aber sehr eindrücklich für die menschliche Vorstellungskraft, die von derartigen Zeiträumen leicht überfordert ist. Im Kino des Erlebniscenters wird diese dramatische Geschichte auf einem riesigen Kalksteinblock, der aus einer Klippe von Stevns Klint herausgeschlagen wurde, zum Leben erweckt, und in der Ausstellung sehen Besucher Dinosaurierskelette, Meteoriten und Versteinerungen. Auch interaktive Spiele faszinieren nicht nur die jungen Besucher.
Damit besonders die kleinen Naturforscher nicht nur in 3D herumdaddeln, geht’s anschließend in den Faxe Kalkbruch, der nur wenige Autominuten entfernt liegt. Der Anblick ist beeindruckend: türkisfarbene Lagunen, kalkweiße Berge und uralte Fossilien. Hier schwammen vor Millionen von Jahren Krokodile, Riesenhaie und allerlei andere prähistorische Meeresbewohner. Ihre Spuren kann sich der Besucher auf einem Spaziergang durch den Kalksteinbruch erarbeiten.
"Nehmt bitte einen Hammer und einen Meißel mit und haltet die Augen offen. Was Ihr findet, dürft Ihr behalten", ermuntert Morten Gether Sørensen, der uns begleitet. Strandgut mitzunehmen ist in Dänemark völlig legal und das hebt unsere Motivation gewaltig. Wir klopfen und hämmern, was das Zeug hält, und finden tatsächlich versteinerte Korallen, Seeigel und Moostierchen sowie Steine, die von einem feinen Spaghettimuster durchzogen sind. Wir sind im Sammelfieber und fühlen uns wie Barny Geröllheimer und Fred Feuerstein, nur im Koffer wird der Platz langsam knapp.

Um den Anblick der Klippen auch von oben zu genießen, spazieren wir an der Ostseeküste entlang zur alten Kirche von Højerup. Der Anblick ist dramatisch: Vor 700 Jahren an dieser Steilküste gebaut, 1928 riss ein Sturm den Chorraum ab, der stürzte die Klippen hinunter. Heute ist die Kirche gut gesichert und der verschwundene Chor ist durch eine Terrasse ersetzt worden, die einen fantastischen Ausblick über die Küste bietet. "Hier ist ein beliebter Ort für Trauungen", verrät Anne Rosell Holt. Im "Lonely Planet"-Reiseführer sei die Kirche von Højerup unter den Top Ten der Romantik gelistet, und heiraten sei in Dänemark ohnehin viel unbürokratischer als in vielen anderen Ländern, schmunzelt sie.
Doch nicht nur die frei gemeißelten Funde aus dem Faxe Kalkbruch füllen bei der Heimreise unseren Koffer. Infiziert vom Sammelfieber versuchen wir auf der kleinen Insel Møn unser Glück. Mit dem Auto ist es nur eine gute Stunde zu den nächsten Klippen, der Anblick von Møns Klint ist ebenso atemberaubend wie der von Stevns Klint. 128 Meter über dem Meer lässt sich herrlich wandern: Auf dem Trail mit dem hübschen Namen "Klintekongens Rige" geht es ins Reich des Kreidefelsenkönigs, so die Übersetzung.
Der knapp 15 Kilometer lange Rundwanderweg im Naturschutzgebiet führt entlang von Kreideküste und Strand durch herrliche Buchenwälder, Heide und offene Weidelandschaft. 2022 wurde der Weg vom Deutschen Wanderinstitut als Premiumwanderweg ausgezeichnet. Dafür sollten Mann und Frau aber wirklich fit sein, denn die Strecke hat es in sich. "Es gibt nicht so viele Wanderer, die das auf einmal machen", lacht Tore Stenberg. Der Deutsch-Däne begleitet uns und hat für uns Flachländer eine leichte Variante ausgesucht: Wir beschränken uns auf vier Kilometer und steigen erst einmal rund 400 Stufen zum Strand hinunter. Das geht schon ganz schön in die Beine, aber am Strand sind wir gut abgelenkt, denn jetzt wird wieder gesammelt: Donnerkeile, Schwämme, Klappersteine, Seeigel, Ammoniten und Hühnergötter wandern in unsere Rucksäcke.
Tore kennt viele Geschichten dazu und erklärt uns auch, warum ein Feuerstein mit einem Loch in der Mitte den seltsamen Namen "Hühnergott" trägt. Fest steht: Feuersteine sind meist schwarz und umgeben von einer weißen Kruste. In ihren Hohlräumen können sich winzige Kristalle bilden, die durch Verwitterung oder Brandung wieder aufgelöst werden. Was übrig bleibt, ist ein Loch (oder mehrere) quer durch den Stein. Diese seltsamen Gebilde regten zu allen Zeiten die Fantasie an; so erschien in den 1960er-Jahren Jewgeni Jewtuschenkos Novelle "Der Hühnergott" auch auf deutsch. "Der Hühnergott ist ein Meeressteinchen mit einem kleinen Loch.
Man sagt, die Krimtataren hätten geglaubt, dass ein solches Steinchen, mit einem Faden an die Hühnerstange gehängt, das Federvieh zu verbesserter Legetätigkeit ansporne", heißt es da. Auf jeden Fall sollen die Steine Glück bringen, und das empfinden wir tatsächlich, als wir nach langer Suche, intensiven Schauens und beständigen Bückens unseren ganz persönlichen "Hühnerstein" gefunden haben. Der liegt jetzt auf dem heimischen Fenstersims und löst beim Betrachten zwar nicht täglich Glücksgefühle aus, aber in jedem Fall Fernweh: So ein klitzekleiner zweiter Hühnergott hätte daneben durchaus noch Platz.